Literaturland


Laura Vogt

So einfach war es also zu gehen

2016

Nach einem Prolog in Kairo setzt das erste Kapitel des Romans dort ein, wo alles begann: in Hamburg, bei der ersten Begegnung.

Am Elbufer ragten Kräne in den Himmel, im Schiffsrestaurant sassen Leute einzeln an befestigten Tischen, waren mit ihren Handys beschäftigt oder am Lesen. Die Hafenfähre fuhr gemächlich an. Er hatte sich in der vordersten Reihe niedergelassen, sass direkt an der Fensterfront. Schulkinder drängten sich auf die Plätze neben ihm, langsam drehte er seinen Kopf und traf auf meinen Blick. Für einen Moment stand alles still, er sog mich ein mit seinen dunklen Augen, dann wandte er sich ab. Eine Hitze durchfuhr mich. Ich atmete tief ein und aus, bevor ich wieder zu ihm schaute. Er war schon nicht mehr ganz jung, sein Profil markant, die Nase kräftig. Ruhig blickte er nun durch das wasserbesprenkelte Fenster und trommelte mit einer Hand auf den Tisch vor sich, die Finger der anderen Hand hatte er an seine Lippen gelegt, sie verdeckten halb seinen Dreitagebart. Aufrecht sass er, die schlanken Beine überkreuzt, ein durchsichtiger Vorhang zwischen ihm und der Welt. Er kratzte sich am Kinn. Noch mehr Kinder eilten zum Fenster, hintendrein schritt die Lehrerin, ein Stimmengewirr entstand, erst jetzt bemerkte ich die leichte Rötung um seine Augen. Er drehte eine Zigarette, die er sich hinters Ohr steckte, alles in einem Zug, schien mir, eine einzige Bewegung er selbst. Als die Schulklasse ausgestiegen war, setzte ich mich neben ihn.

Ich bin Helen, sagte ich.
Er lachte. Rauchst du?
Er nahm die Zigarette und hielt sie mir hin.
Bester Tabak aus den USA.

Wir begannen noch in Hamburg mit den Arabischlektionen, obwohl wir nur acht Tage Zeit hatten. Khaled bestand darauf, mich jeden Tag eine Stunde in seiner sogenannten Vatersprache zu unterrichten, als er erfuhr, dass ich Grundkenntnisse in Ägyptisch-Arabisch besass.

Yä aassal, sagte er und blätterte die vielen Papiere durch, seine Hände glänzten, als wären sie eingeölt. Ich dachte an meinen Aufenthalt in Luxor ein Jahr zuvor, an das frischgebackene Brot, das dampfend in Mahmouds Kinderhänden lag. Sobald ich anfing, mehr Khaleds Bewegungen zu folgen als seinen Worten, hielt er seine Hände zwischen uns, wie einen Spiegel.

Konzentration, sagte er mit tiefer Stimme, lachte und erklärte weiter.

Ich erlebte Hamburg völlig neu, liess mich durch Strassen und über Brücken führen; die Universität interessierte mich nicht mehr. Dort möglicherweise ein Semester zu studieren, war mein Vorwand für die Reise gewesen, und da ging ich nun, an Khaleds Seite, in der Vorahnung, still einen Punkt anpeilend, mich zu öffnen. Wir spazierten oft schweigend, erst wenn wir uns in ein Café setzten, intensivierten sich unsere Gespräche, und nur in der Oberhafenkantine hielt es uns länger. Schon früh fiel mir auf, dass Khaled wenig von sich erzählte. Oft redete er über das, was er sah, über den Ort, an dem wir uns gerade befanden.

Schauen wir uns den Oberhafen an, sagte Khaled nach dem Mittagessen.

Ein Zug donnerte vorbei, wir spazierten an den Lagerhallen vorüber. Die Fläche vor uns war seltsam leer im Gegensatz zur schon bestehenden Hafen City, und auch dieser Teil würde neu bebaut werden, ein Kreativzentrum, hatte ich gelesen.

Plötzlich drückte sich Khaled von hinten an mich, legte die Arme über meine Schultern, wir taumelten zwei, drei Schritte vorwärts. Khaleds Körper war überraschend weich, ich roch seinen herben warmen Duft.

Ich wollt, ich könnt dich hier nehmen, sagte Khaled mit kehliger Stimme.

Ich drehte mich zu ihm und schob ihm meine Zunge in den Mund. Er wandte das Gesicht ab, rollte meinen Pullover hoch und griff nach meinen Brüsten, knetete sie, ein kurzer Schmerz durchfuhr mich. Khaleds Bewegungen wurden sanfter, durch das Kleid fühlte ich seine Erregung. Mir wurde heiss, und es fiel mir schwer, das Gleichgewicht zu halten, ich umklammerte mit meinen Händen seinen Nacken, Khaled stiess seine Zunge wieder und wieder in meinen Mund, liess mich dann abrupt los.

Wir schauten uns in die Augen. Seine Gesichtszüge waren grob, das Kinn angespannt. Er streckte mir seine rechte Hand entgegen, sie zitterte, sah auf einmal sehr alt aus, hervortretende Adern überzogen den Handrücken. Langsam hob ich meine eigene Hand und berührte seine mit grosser Vorsicht, als könnte ich mich daran verbrennen. Er zog mich einige Zentimeter zu sich heran, legte einen Arm um mich.

Gehen wir zu mir, sagte ich.
Nicht jetzt, sagte Khaled. Ich komme am Abend vorbei.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 204–205.

Erstpublikation: Laura Vogt: So einfach war es also zu gehen. Roman. St. Gallen: VGS Verlagsgesellschaft (Edition Literatur Ostschweiz 3), 2016. S. 8–10.