Literaturland


Ursula von Allmen

Worte sind ohnmächtig

2005

Der Roman Das halbe Bild von Ursula von Allmen ist ein Mosaik aus Geschichten. Marie, die Ich-Erzählerin, zeichnet darin Mutters Leben, ihr eigenes und das ihrer Töchter nach. Mutter lernte als junges Mädchen Damenschneiderin und arbeitete später in der Fabrik.

‹Schmerz› ist ein unpräziser Begriff, sagt nichts aus über seine Heftigkeit oder Dauer. Dazu bräuchte es zusätzlich Ziffern, eine Schmerzskala mit einer Steigerung von eins bis zehn: Mutter benutzte seit vielen Jahren einfach das Wort. Sie meinte damit ihren kaputten Rücken, die ausgedienten Beine, die Nervenkrämpfe. Nur aus Stärke und Anzahl der geschluckten Schmerztabletten liess sich das Ausmass der Beschwerden erraten.

Anfangs, bei der Akkordarbeit an der Nähmaschine, da reichten zwei Saridon. Eines um halb elf, das zweite um vier Uhr. Der Patron gab sie gratis ab an das Personal, wenn es müde wurde oder unkonzentriert. Mutter hatte verständnislos auf die Kolleginnen geblickt, die beim Chef auch Tabletten für den Privatgebrauch holten, sich zu günstigen Sonderkonditionen die Beträge vom Wochenlohn abziehen liessen. Sie hatte über die Galli gelächelt, die gewerkschaftlich organisiert war, die immer wieder bezahlte Arbeitspausen statt Saridon verlangte, die bei der Volksgesundheit mitmachte, das Kneippen predigte und Kräuter kannte, sammelte, trocknete und sie in weissen Stoffsäckchen in ihrer Wohnung an einem Wäscheseil quer durch den Korridor aufhängte. Ja, die Galli, die war allein stehend, hatte Zeit für solchen Krimskrams, lebte in einer Lotterbude und war schon mehr als fünfundsechzig. Hatte wohl keinen roten Rappen auf der Seite. Musste darum immer noch zur Arbeit. Die sagte oft, wer denn wohl von so einer kleinen Altersrente leben könne. War aber doch froh um diesen Zustupf. Es gab die Rente ja erst seit ein paar Jahren. Vorher gabs gar nichts, auch keine Leistungen für Invalide. Deshalb musste sie jahrelang ihren halbblöden Bruder mit durchfüttern. Er starb dann Gott sei Dank, als sie schon über fünfzig war. Seither kann sie in die Fabrik. Das ist besser bezahlt als Heimarbeit.

Mutter kann auch in die Fabrik. Seit Vater tot ist. Vorher hat sie Heimarbeit gemacht. Als Vater immer krank war. Und arbeitslos. Oder betrunken. Oder im Sanatorium. Und für Leute vom Dorf genäht hat Mutter. Zum Glück hatte sie als junges Mädchen Damenschneiderin lernen können, sagt sie immer wieder zu Marie.

Du wirst auch einen richtigen Beruf lernen. Nein, nicht Nähen, da verdient man zu schlecht und macht sich den Rücken kaputt. Und du bist ja auch nicht gut in Handarbeit. Aber im Kopf bist du gut.

Ein gutes Zeugnis heimzubringen, das ist das Mindeste, was Marie tun kann. Das freut Mutter. Hilft ihr am Morgen den Alltag wieder anzugehen, beweist, dass sich die Mühe lohnt.

Um sieben beginnt die Arbeit. Da müssen die Näherinnen an den Maschinen sitzen, vor sich Bettwäsche in weissen Bergen, manchmal rotweissen Kölsch, Barchent mit pastellfarbenen Borten. Gerade Nähte, langweilig zum Herunterrattern. Können auch Ungelernte schnell.

Schöner zu nähen sind Damen-Nachthemden, sagt Mutter, Litzen oder Spitzchen einsetzen ist schwieriger. Auch etwas besser bezahlt. An der Herrenwäsche sind es Passepoils, die exakt eingenäht werden müssen. Der Chef und sein Bruder kontrollieren selber. Fehlerhaftes müssen die Näherinnen auftrennen, neu nähen. Die Bezahlung geht nach Stückzahl.

Das sind die Jahre, in denen Mutter ein paar Brocken Italienisch lernt. Viele Arbeiterinnen sind aus dem Süden. Sie sind froh um Arbeit. Das weiss der Chef. Es drückt den Ansatz. Die Fremden zahlen keine Gewerkschaftsbeiträge. Sie brauchen alles Geld für ihre Familien.

Mutter zahlt auch keine Beiträge. Sie sagt, dass sie nicht auch noch für irgendeinen Schönschwätzer arbeiten kann. Die Galli sagt, das sei kurzsichtig.

Mutter steht um halb sechs auf. Sie kocht vor, giesst und jätet sommers den Garten, heizt winters den Ofen ein, wäscht sich und hetzt nach dem Kaffee und einer Brotschnitte auf den Weg. Eine kleine Stofftasche mit Holzbügeln hängt an ihrem Arm. Im Gehen reibt sie sich Vaselincreme ein. Die feinen Nachthemdstoffe haken sich an rissiger Haut fest. Darum immer Hände eincremen, verlangt der Chef. Wenn es regnet, hüpft dabei der Schirm über Mutters Kopf auf und ab. Marie sieht es aus dem Schlafzimmerfenster. Seit Vater tot ist, schläft sie in seinem Bett, neben Mutter.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 267–268.

Erstpublikation: Ursula von Allmen: Das halbe Bild. Roman. Herisau: Appenzeller Verlag, 2005. S. 9–11.