Literaturland


Nikifóros Vrettàkos

Diese Kinder unseres Planeten

1996

«Ich verlebte einige Zeit in einer kleinen, achtbaren Welt», schreibt der griechische Dichter Nikifóros Vrettàkos in der Widmung zum nachstehenden Gedicht. «Und ich meine das internationale Kinderdorf Pestalozzi in der Schweiz.» Vrettàkos verbrachte 1967–1970 jeweils mehrere Monate im griechischen Kinderhaus «Kypseli».

Diese Kinder, die mich heute
wie ein Schutzwall umringen,
zur Sonne blicken und an mich hängen,
als sei ich eine Leiter – diese Kinder
sind nur die Wellenschläge
jener Flut, die von allen Seiten
erdröhnt und die zitternde Welt überströmt.

Diese Kinder schliessen in ihrer Tiefe
das Mass der Angst, den goldenen Zaun
des Guten ein und die Botschaft der Sonne –
klarer Trompetenschall des «Ende Feuer»,
und Christi Testament, die Arche der Vögel,
der Tiere, der menschlichen Rasse
– gemeinsam mit den Kindern jener, die
heute mit Andacht die Wasserstoffbombe
bereiten, wie ihre unwissenden Ahnen
das Brot.

Diese Kinder
reichen die Hand mir, bieten ihr Haupt
meinem Streicheln, die Stirn meinem Kuss,
sie singen, wie die Vögel im Apfelbaum,
in meine Gedanken, während ich
mit gesenktem Gesicht bedenke, dass
das einzige, das ihnen nicht gebührt, der Krieg ist,
dass die einzige rettende Sonne jetzt
in den Herzen wohnt, dass der Geist uns verrät –
der Geist ist das Licht nur, das uns
der Nacht überführt.

Jeden Abend umhüllt
uns alle der Schatten, der auf die Erde fällt,
und wir unterscheiden uns nicht, denn gleich ihnen
bin auch ich der Schlag einer Welle von heute,
und ich klammere mich an die Herzen und flehe
wissend, dass es andere Rettung nicht gibt.
Ich bitte um ihre Hilfe und um die Hilfe
alles Lebendigen, damit wir rasch eine
Schranke aus Händen flechten, eine göttliche Wand,
ein «Halt!», bevor die Wolken entflammen,
bevor die Trommeln aus der Haut der Nacht
erdröhnen, bevor die Fahnen aus allen Richtungen
erscheinen, hangend wie Zungen wilder Tiere
am Horizont.

Denn diese Kinder,
zu deren Rettung die finsteren Mächte
Napalmbomben erfinden und zünden,
sind eine geheime göttliche Botschaft,
ein himmlischer Glaube, ohne Ende im Raum
und der Zeit – ein Weltall. Sie sind die vollendete
Schönheit, und sie sind die schöne Vollendung
des Weltbaus. In ihnen ist der Keim
des Lichtes bewahrt, die Strahlung
der ersten Photonen, die plötzlich im Chaos
aufblinkten – der vollständige Plan
der Schöpfung.

Am Abend, bevor ich
mit meiner Trauer mich an den Schreibtisch
setze, wo die Feder über die
Blätter zieht und meine Seele ihren
Regen über die Wüste ergiesst, genau
wenn die Glocke die achte Stunde schlägt,
kommen die Kinder der Reihe nach,
mir «gute Nacht» zu wünschen.
Sie legen die Arme wie kostbare
Bänder um meinen Hals, und ich drücke sie
an die Brust, sie zu verstecken.
Ich falte die Hände, als helfe ich Gott.
Als sei ich ein Schutzdach,
der Erde Not zu decken.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 88–90.

Erstpublikation: Nikifóros Vrettàkos: Die Kinder unseres Planeten. In: Argyris Sfountouris / Arthur Bill: Das Kinderdorf Pestalozzi in Trogen und sein griechischer Dichter. Bern: Haupt, 1996. S. 25–28.