Literaturland


Robert Walser

Aus dem Bleistiftgebiet

1928

Wie nett und freundlich so ein Dörfchen aussieht

Wie nett und freundlich so ein Dörfchen aussieht,
dem städtelig Spazierenden erscheint es
wie ein Gedichtchen oder ein Gemälde.
Ähnlich dem Kind im Bettchen liegt das Dorf
in heimeliger Landschaft eingebettet.
Die Häuser scheinen beinah etwas wie
ein liebenswürdiges Bouquet zu bilden.
Hell glänzt der Sonnenschein auf jedem Dach,
die Bauten scheinen dem empfänglichen
Wanderer des Schmuckes eher als des
Gebrauches wegen zierlich dazustehen.
Als wenn ein Dorf aus eitel Lebensfreude
bestehe, blickt er’s an, und seine Zunge
lispelt: «Entzückend!» Kaum denkt er daran,
dass hier auch was existiert wie Arbeit,
dass Menschen hier so leicht wie anderwärts
müd’ und verdriesslich werden können, seine
spazierliche Wohlaufgelegtheit will eher
voraussetzen, so ein hübsches Dörflein
sei nicht ein ständ’ger Kampf um Mein und Dein,
und wer drin wohnte, müsste glücklich sein.

 

Das Leben auf dem Lande hat das Schöne

Das Leben auf dem Lande hat das Schöne,
dass man sich kann mit sich beschäft’gen.
Wie herrlich ist zum Beispiel der Gedanke
nur schon ganz einfach einmal an den Tod,
der keine Rolle in den städt’schen Köpfen
spielt, weil in Städten Lebenslustigkeit
von morgens früh bis abends nur noch Trumpf ist,
und unter Menschen eine ernste Miene sich
nicht schickt. Dort aber auf dem Lande kann man
gestorben sein nach Noten und Belieben,
das stört die Vöglein im Gesange nicht
und auch die Bäume nicht im grünen Prangen.
Ich ging dorthin und fand im Geh’n es reizend,
mich in die Dunkelheit hineinzudenken.
Ganz wie von selber kam mir die Idee,
es sei im Grunde ganz verständlich,
dass man nicht immerwährend leben könne.
Ewig ein Mensch zu sein, das gibt es nicht.
Nicht älter werden woll’n ist nicht Natur.
Gewissermassen mit Vergnügen legte
ich mich in’s Grab. O, auf dem Lande, im Freien
darf man das schon, weil einem niemand
das bisschen (1) Denken vom Gesicht abliest,
und Bäche, Wege, Weiden kein Interesse
haben, dass man in einem fort das Leben liebe,
von dem es sich doch erst noch fragt,
ob es sich viel aus solcher Liebe mache,
ob’s schön und stark und sinnreich sei dadurch.
Sich tot zu denken, o wie froh macht das,
wenn nur die andern weiterleben müssten,
und mich behelligte kein Wünschen mehr.

(1) «tief’re»


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 17–18.

Erstpublikation: Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren 1924–1933, Bd. 6: Gedichte und dramatische Szenen. © Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2000. S. 463, 474. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.