Literaturland


Robert Walser

Der Räuber

1925

Der im mikrographischen Nachlass von Robert Walser schlummernde Räuber-Roman erschien erstmals 1972. Heute gilt er als das bedeutendste Werk aus Walsers letzter Schaffensphase. Der Räuber ist ein Bohemien, ein Müssiggänger und mittelloser Schriftsteller, der von der Gesellschaft aufgrund seiner Unfähigkeit und seines Unwillens, sich einzufügen, ausgegrenzt und belächelt wird und der «vielleicht froh [gewesen] wäre, wenn irgend jemand an sein Räubertum geglaubt hätte».

Edith liebt ihn. Hievon nachher mehr. Vielleicht hätte sie nie zu diesem Nichtsnutz, der kein Geld besitzt, Beziehungen anbahnen sollen. Es scheint, dass sie Abgeordnetinnen, wie sollen wir sagen, Kommissärinnen nach ihm aussendet. Er hat überall so seine Freundinnen, aber es ist nichts mit ihnen, und vor allen Dingen ist wieder nichts mit diesen sozusagen berühmten hundert Franken. Einst liess er aus nichts als Nachgiebigkeit, aus Menschenfreundlichkeit hunderttausend Mark in den Händen andrer liegen. Wenn man ihn auslacht, so lacht er mit. Schon das allein könnte als recht bedenklich an ihm erscheinen. Nicht einmal einen Freund hat er. Während ‹all dieser Zeit›, die er hier unter uns zubringt, ist es ihm, zu seinem Vergnügen, nicht gelungen, sich unter der Herrenwelt Wertschätzungen zu erwerben. Ist das nicht eine der gröbsten Talentlosigkeiten, die man sich denken kann? Manchen gehen seine höflichen Manieren längst auf die ‹Nerven›. Und diese arme Edith liebt ihn, und er geht inzwischen, da es jetzt sehr warm macht, nachts noch um halb zehn Uhr baden. Meinetwegen tu er das, aber er beklage sich nicht. Unglaubliche Mühe, ihn zu bilden, hat man sich gegeben. Glaubt denn dieser Peruaner, oder was er sein will, er könne das selber? Was gibt’s? Mit solchen Wörtern wird er von Mädchen aus dem Volk angesprochen, und der Schafskopf, der er in Gottesnamen zu sein scheint, findet diese Art, ihn zu fragen, was er wünsche, entzückend. Sie behandeln ihn da und dort längst wie einen richtigen Abgetanen, und dessen erfreut er sich noch. Sie blicken ihn an, als wollten sie ausrufen: «Ist dieser Unmögliche auch schon wieder einmal zur Abwechslung da. O, wie langweilig!» Barsch angeschaut zu werden, belustigt ihn. Heute hat es ein wenig geregnet, und sie liebt ihn also. Sie hat ihn gleichsam vom ersten Augenblick an herzlich lieb gehabt, er aber hat es nicht für möglich gehalten. Und nun diese um ihn gestorbene Witwe. Wir werden zweifellos auf diese verhältnismässig gediegene Frau zurückkommen, die in einer unserer Strassen ein Geschäft besass. Unsere Stadt hat Ähnlichkeit mit einem grossen Hof, so hübsch hängen die Teile zusammen. Auch hierüber wird mehr zu reden sein. Immerhin werde ich mich kurz fassen. Seien Sie überzeugt, dass ich Ihnen lediglich Schickliches mitteile. Ich halte mich nämlich für einen vornehmen Autor, was vielleicht ganz töricht von mir ist. Vielleicht werden ja auch einige Unvornehmheiten mit einfliessen. Mit diesen hundert Franken ist es demnach also nichts. Wie man nur so prosaisch sein kann wie dieser unverbesserlich Gutgelaunte, der sich von Mädchen, die hübsche Schürzen tragen, sagen lassen muss, wenn er ihnen zu Gesicht kommt: «Auch dies noch. Das hat noch gefehlt.» Natürlich machen ihn solche Redensarten ein bisschen vor sich selber zittern, aber er vergisst immer alles. Nur ein Nichtsnutz wie er kann so viel Wichtiges, Schönes, Nutzbringendes in einem fort aus dem Kopf fortlaufen lassen. Nie bei Kasse zu sein, ist eine Nichtsnutzigkeit. Einst sass er so auf einer Bank im Wald. Wann war das? Die Frauen aus den besseren Ständen beurteilen ihn milder. Sollte das deshalb sein, weil sie Übermütigkeiten in ihm vermuten? Und dass ihm Direktoren die Hand geben. Ist das nicht sehr eigentümlich? Diesem Räuber?

Wurstigkeit, Schnuppigkeit von Fussgängern auf Strassen irritiert Automobilisten. Ich will auch rasch noch dieses sagen: Es gibt da einen Vertreter, der mir nicht gehorcht. Ich will ihn seinem trotzigen Benehmen überlassen. Ich werde ihn auf das Grossartigste vergessen. Aber es hat da ein Mittelmässiger bei Edith einen Erfolg gehabt. Er trägt jedenfalls einen jener kleidsamen Hüte, die allen ihren Trägern ein Aussehen von Zeitgemässigkeit verleihen. Auch ich bin mittelmässig und freue mich, dass ich’s bin, aber der Räuber auf der Bank im Wald war’s nicht, sonst würde er unmöglich haben vor sich hinflüstern können: «Einst sprang ich in den Strassen einer hellen Stadt als Commis und phantasierender Patriot herum. Wenn’s mir licht ums Gedächtnis herum ist, holte ich im Auftrag meiner Herrin ein Lampenglas, oder was es sonst etwa war. Ich bewachte damals einen alten Mann und erzählte einem jungen Mädchen, was ich gewesen sei, eh’ ich in seine Nähe gelangte. Nun sitze ich in einer Unbeschäftigtheit, wofür ich der Billigkeit halber das Ausland verantwortlich mache. Ich bekam im Ausland jeweilen auf das Versprechen hin, Talent zu zeigen, Monatsgelder. Anstatt dann in Kultur, Geist usw. zu machen, machte ich Jagd auf Zerstreuungen. Eines Tages setzte mich mein Gönner von der Unpassendheit in Kenntnis, die ihm darin zu schlummern schien, dass er mich auch fernerhin noch finanziell hebe. Diese Mitteilung machte mich vor Erstaunen beinah stumm. Ich setzte mich an meinen zierlichen Tisch, d. h. aufs Sofa. Meine Hausfrau fand mich weinend. ‹Sorge dich nicht›, redete sie. ‹Wenn du mich jeden Abend mit einem schönen Vortrag erfreust, will ich dich in meiner Küche kostenlos die saftigsten Koteletts braten lassen. Nicht alle Menschen sind von der Natur bestimmt, sich nützlich zu machen. Du bildest eine Ausnahme.› Diese Worte bildeten für mich eine Möglichkeit der Weiterexistenz, ohne dass ich etwas leistete. Die Eisenbahn hat mich dann hieher befördert, damit mir Ediths Gesicht fruchtbar sei. Mein Schmerz um sie gleicht einem Tragbalken, woran wieder die Lustigkeiten schaukeln.» So unterhielt er sich unter der Blätterbedachung mit sich selbst, worauf er mit einigen Sprüngen auf einen armen Säufer zueilte, der soeben seine Schnapsflasche im Rock versteckte. «Halt, du dort», rief er aus, «steh mir Rede, was du da für ein Geheimnis vor der Mitwelt verbirgst.» Der Angerufene stand still wie eine Säule, nicht ohne zu lächeln. Sie schauten einander an, worauf sich der arme Mann kopfschüttelnd weiterbegab, über den Zeitgeist allerlei leise Redensarten verlierend. Der Räuber sammelte alle diese Bemerkungen sorgfältig auf. Es war Nacht geworden, und unser Kenner der Umgebung von Pontarlier ging nach Hause, wo er sehr schläfrig ankam. Was die Stadt Pontarlier betrifft, so hatte er sie aus einem bekannten Buch kennengelernt. Es gibt dort unter anderem eine Festung, worin ein Dichter sowohl wie ein Negergeneral zeitweilig angenehm logierten. Bevor unser oft und viel Französisch Lesender sich in sein Nest oder Bett legte, sprach er: «Längst schon hätte ich jenes Armband ihr wiedererstatten sollen.» An wen er hiebei wohl dachte? Seltsames Selbstgespräch, das, auf welches wir ziemlich gewiss zurückkehren.

Digitale Reprofotografien

Abb. Robert Walser: Mikrogrammblatt 488 recto. Anfang des Räuber-Romans. © Robert Walser-Stiftung Bern / Keystone.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 581–584.

Erstpublikation: Robert Walser: Der Räuber. Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Jochen Greven. Bd. 12. Mit freundlicher Genehmigung der Robert Walser-Stiftung, Bern. © Zürich/Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1978 und 1985. S. 7–11.