Literaturland


Hans Widmer

nima

1983

Unter dem Pseudonym P. M. entwarf der Schriftsteller Hans Widmer eine anarchistische und kapitalismuskritische Utopie. bolo’bolo und sein Autor prägen bis heute soziale Stadtbewegungen in Zürich und anderswo mit. Ein bolo ist eine autonome Gruppe von einigen hundert ibus.

bolos entstehen nicht einfach aus irgendwelchen Nachbarschaften oder weil es praktisch ist. Das wirkliche Motiv, das die ibus veranlasst, in bolos zusammenzuleben, ist ein gemeinsames nima. Bestimmte nimas kann das ibu nur dann voll ausleben, wenn es andere ibus findet, die das gleiche haben. In einem bolo verwirklichen, ergänzen und verändern die ibus ihr gemeinsames nima. Umgekehrt können ibus, deren nima keine gesellschaftlichen Formen zulässt (Einsiedler, Vagabunden, Misanthropen, Individualanarchisten, Narren, Weise usw.) allein bleiben und in den ‹Zwischenräumen› der überall vorhandenen, aber nicht obligatorischen bolos leben.

Das nima enthält eine Lebensauffassung, die Grundstimmung, Philosophie, Interessen, Kleidung, Ernährungsweise (Kochstil), Umgangsformen, Verhältnis zwischen den Geschlechtern, zu Kindern, Wohnräumen, Gegenständen, Farben, Tieren, Bäumen, Ritualen, den Tagesablauf, Musik, Tanz, Mythologie, kurz all das, was man als ‹Tradition› oder ‹Kultur› bezeichnen könnte. Das nima definiert das Leben, so wie das ibu es sich konkret wünscht.

Die Quellen des nima sind ebenso vielfältig wie es selbst. Es können ethnische Traditionen sein (noch lebendige oder wieder entdeckte), philosophische Schulen, Sekten, geschichtliche Gemeinsamkeiten, gemeinsam erlebte Kämpfe oder Katastrophen, Mischformen oder ganz neu erfundene. Ein nima kann sehr umfassend und detailliert sein (wie bei Sekten oder Volkstraditionen) oder aber nur Teilbereiche betreffen. Es kann extrem eigenartig sein oder nur die Variante eines andern nima. Es kann sehr offen und veränderungsbereit sein oder geschlossen und konservativ. nimas können auch wie Moden durch die bolos gehen, oder sich wie Seuchen verbreiten und wieder aussterben. Sie können sanftmütig sein oder rabiat, passiv-kontemplativ oder aktiv-extravertriert. Die nimas sind der eigentliche Reichtum der bolos. (Reichtum = Vielfalt der Möglichkeiten, geistig wie materiell!)

Da alle möglichen nimas auftauchen können, ist es auch möglich, dass sich brutale, repressive, patriarchalische, stumpfsinnige, fanatische Terrorcliquen etablieren. Es gibt ja für die nimas weder humanistische noch liberale noch demokratische Gesetze oder Vorschriften und schon gar keinen Rechtsstaat, der sie durchsetzen würde. Niemand kann ein bolo daran hindern, Massenselbstmord zu begehen, an Drogenexperimenten drauf zu gehen, sich selbst in den Wahnsinn zu treiben. bolos mit einem Wikinger- oder Hunnen-nima können ganze Kontinente terrorisieren, Raubzüge veranstalten, brandschatzen: Freiheit und Abenteuer, soweit das Auge reicht.

Andererseits setzt die Logik von bolo’bolo der Möglichkeit und der Ausbreitung solcher Verhaltensweisen und Traditionen auch wieder Schranken. Plünderung und Raub haben ihre eigene Ökonomie. Es ist auch zum vorneherein absurd, Denkweisen aus der heutigen Geldwirtschaft einfach in einen andern Zusammenhang zu verpflanzen. (Damit nur schon bolo’bolo entsteht, müsste da ja einiges passiert sein.) Ein Banditen-bolo müsste relativ stark und gut organisiert sein und es braucht innere Disziplin und Unterdrückung. […]

Eroberung, Ausraubung und Unterdrückung unter Nationen entspringen nicht irgendeiner dunklen Seite der menschlichen Natur, sondern es sind Katastrophen, die entstehen, wenn Grössenverhältnisse aus dem Gleichgewicht geraten. Die bolos selbst sind gross genug, um eine gewisse Unabhängigkeit und Stärke haben zu können – das Einzel-ibu kann sich dort geborgen fühlen und kommt nicht in Versuchung, sich ‹starken Männern› oder mächtigen Organisationen anzuschliessen. Umgekehrt sind sie doch zu klein, um zu Nationen oder Staaten zu werden. Unterdrückung in ihrem Innern zahlt sich nicht aus, weil Unterdrücker und Unterdrückte sich zu nahe kommen. Sie sind wiederum unselbständig genug, um Kommunikation und Austausch zu einem Bedürfnis werden zu lassen. Und gerade diese Netzwerke planetarer Kommunikation (unterstützt durch Reisen, Telephon und einige transkontinentale Transportmittel) verunmöglichen Anonymität durch Distanz und damit den Aufbau von Feindbildern. Raub-nimas bleiben immer noch möglich, doch nur als eine Art l’art pour l’art und als Ausnahme. Die bolos müssen selbst wissen, was sie tun. Denn woher sollen wir die Weltkontrolleure nehmen, die uns vor uns selbst schützen?

In einer grösseren Stadt könnten wir also z. B. folgende bolos finden: Sym-bolo, Anti-bolo, Istan-bolo, Les-bolo, Play-bolo, Sado-bolo, Vegi-bolo, Ara-bolo, Hebro-bolo, Para-bolo, Franko-bolo, Italo-bolo, Ibero-bolo, Dia-bolo, Anglo-bolo, Bocks-bolo, Bier-bolo, Alko-bolo, Hasch-bolo, Pyramido-bolo, Konstantino-bolo, Paläo-bolo, Agro-bolo, Modul-bolo, Maso-bolo, Biblio-bolo, Medito-bolo, Bi-bolo, Tri-bolo, Poly-bolo, Mix-bolo, Parano-bolo, Tao-bolo, Disco-bolo, Nekro-bolo, Marx-bolo, High-Tech-bolo, Öko-bolo, Sozi-bolo, Sowjet-bolo, Marx-bolo, Helio-bolo, Ikaro-bolo, AIDS-bolo, Anarcho-bolo, Logo-bolo, Mago-bolo, Tara-bolo Clean-bolo, Coca-bolo, Palm-bolo, Thai-bolo, Mongolo-bolo, Olo-bolo, Anonymo-bolo, Intimo-bolo, Marl-bolo, Hyper- bolo, Medio-bolo, Bar-bolo, Wotan-bolo, Blue-bolo, Ton-bolo, Basket-bolo, Mono-bolo, Metro-bolo, Krischna-bolo, Jesu-bolo, Alp-bolo, Bala-bolo, Inka-bolo, Alemano-bolo, Frieso-bolo, Bom-bolo, Ur-bolo, Neo-bolo, Baby-bolo, Entro-bolo, Digito-bolo, Ana-bolo, Liban-bolo, Pluri-bolo, Orgo-bolo, Sparta-bolo, Thermo-bolo, Frigo-bolo, Punko-bolo, Norm-bolo, Waldmeister-bolo, Geissen-bolo, Inkommensura-bolo, Rasle-bolo usw. Daneben gäbe es natürlich auch viele völlig normale und gewöhnliche bolos, die von sich selbst nichts wissen und von denen nichts bekannt ist, weil sie nicht einmal einen Namen haben (Banal-bolos).

Die Vielfalt der Lebensweisen löst unsere heutige Massenkultur, den individualistisch verbrämten Kollektivismus unseres Alltags, die zentral gesteu­erten Moden und auch die genormten Staatssprachen auf. Jeder kann das Leben wählen, das ihm passt, verreisen, wenn er will, so viel Individualität oder Gemeinschaftlichkeit erleben, wie er für gut hält. Viele bolos hätten auch ihre eigene Sprache. Das könnte eine bestehende Sprache sein, ein Dialekt, ein besonderer Slang oder auch neu erfundene Sprachen. Damit verliert die Normsprache ihre Wirksamkeit als Herrschaftsmittel und es entstehen ‹babylonische› Verhältnisse, d. h. Unregierbarkeit durch Dysinformation. Damit aber Reisende oder sonst Leute, die mit vielen bolos verkehren, nicht ganz verloren sind, gibt es eine Art Not-Code, das asa’pili. Das asa’pili ist keine richtige Sprache, denn es besteht nur aus wenigen Wörtern (ibu, bolo, nima, asa, pili usw.) und den dazugehörigen Zeichen (für solche, die nicht reden oder schreiben wollen, können oder dürfen). Mit Hilfe des asa’pili kann sich jeder in dringenden Fällen behelfen und zu Nahrung, medizinischer Hilfe, Unterkunft usw. kommen. Und dann gibt es genug Zeit, um die örtliche Sprache in aller Ruhe zu lernen und zugleich mehr über die Gastgeber zu erfahren. Das Erlernen der ­jeweiligen Sprachen ­fördert die Kontaktaufnahme und das gegenseitige Verständnis der Kulturen. ­Warum sollte es jemand eilig haben.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 498–500.

Erstpublikation: P. M.: bolo’bolo.
Zürich: Paranoia City, 1983. S. 83–89.
Online: www.geocities.ws/situ1968/bolo/bolobolo.html.