Literaturland


Thomas Widmer

Stein AR

2016

Die frühesten Erinnerungen sind wie Nebelfetzen. Dann die erste Geschichte, bin ich dreijährig? Ich stehe vor unserem Haus und beginne mich, indem ich eine rote Kinderschaufel mit langem Griff schwinge, um mich selber zu drehen, schneller und schneller, bis mir schwindlig wird und ich umfalle, Blut am Kopf, die Mutter klebt ein Pflaster auf. – Mit Ernst spiele ich gerne im Wald, wir sind Steinzeitmenschen mit Speeren, seine Mutter ist am Holzen, wir überfallen sie, es hagelt Tannzapfen. – Mein Bruder und ich teilen ein Zimmer, er erzählt mir nachts, dass ein entflohener Mörder aussen die Wand hinaufklettert; ich habe so fest Angst, dass ich ganz unter die Bettdecke tauche und kaum zu atmen wage. – Dem Fredi, der mich plagt, schlage ich auf dem Schulhof einen Zahn aus, am Abend klingelt es, sein Vater steht in der Tür. – Im Dorf im Lädeli von Rechsteiners duftet es nach dunkler Schoggi und frisch gemahlenem Kafi; der Beck Bischof wiederum macht einen Hefekranz, von dem ich statt eines Stücks lieber vier oder fünf ässe; auf seinen Einback häufen wir Erdbeeren oder Rhabarbermus. – Beim Schützengarten hockt draussen im Garten ein Teenager-Mädchen mit mürrischer Miene und hört Suzi Quatros 48 Crash, die Musik ist zum Fürchten wild. – Im Turnverein rennen wir durch die halbe Gemeinde, der dicke Bub bleibt zurück, ich mag den Leiter Hampi, der kein Kind tadelt oder verspottet. – An Sommersonntagen nehmen wir Brot, Würste und Mineral und steigen hinab ins Sittertobel; es riecht nach nassem Farn, es hat Sand, die Steine sind feucht, man kann ausrutschen und sich ein Bein brechen; und die Gönten sind unheimlich. – Mein Grossvater offeriert mir, als ich 13 bin, ein halbes Bier zum Probieren. Im Brunnen gegenüber dem Haus der Grosseltern am Dorfplatz, heute übrigens ein ‹Bed & Breakfast› mit Homepage, baden wir. – Das sind meine Erinnerungen, keiner wird sie vollständig teilen, jeder Steiner und jede Steinerin hat ein eigenes Stein im Kopf.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 175.

Erstpublikation: Thomas Widmer: Stein AR. In: wahr scheinlich fabelhaft. Kulturlandsgemeinde Appenzell Ausserrhoden. 7./8. Mai 2016 im Mehrzweckgebäude in Stein. Programmheft. Speicher: Druckerei Lutz, 2016. S. 17.