Literaturland


Paul Bänziger

Geschichten um den Büscheler

1994

Die Büscheler befinden sich, heisst es, gerne in den Nagelfluhgebieten der Voralpen. In diesen uralten Gebirgen ist manches aus den Urzeiten geblieben, nicht nur kleinere Fels- und Waldgeister, sondern auch ältere Wesen, von denen wir Heutigen nur noch selten etwas erahnen.

Eines dieser Gebiete sind die Gröppen. Die Gletscher in den Eiszeiten haben sie nicht überdeckt und kein breites Tal herausgehobelt. Der Gröppenfluss musste sich daher selbst durch das Gestein nagen. Gelang es ihm, grössere Hindernisse zu durchbrechen, entstanden tiefe Schluchten, in denen das Wasser, wenn etwa eine lockere Stelle der Nagelfluh dies ermöglichte oder wenn ein grösserer Geröllbrocken in der Strömung während Jahrtausenden mahlte, tiefe Becken ausgespült hat. Das Geschiebe legt der Gröppen auf breite Schotterebenen ab, welche der Fluss in mehreren kleinen Bächen durchfliesst. Je nach Grösse werden diese Schottergebiete von den Anwohnern ‹Boden› oder ‹Bödeli› genannt. […]

Der Pfarrer von Wald liebte es, in diesen Nagelfluhgebieten zu wandern, wobei er die von Touristen besuchten Gebiete tunlichst mied. So ging er eines Tages auch durch das Gröppental. Es war noch früh am Morgen, die linke Talseite lag noch im Schatten, und die hohen Tannen und Ahorne, die dort das Strässchen säumen, verbreiteten ein kühles Halbdunkel. Wie der Pfarrer durch den Alpmorgen schritt, bald die lustigen Kaskaden eines Bächleins betrachtend, das, den Weg überfliessend, das Weitergehen hemmte, bald durch die Tannen auf die Südseite schauend, wo die ersten Sonnenstrahlen in den Sieben Lärchen spielten, löste sich plötzlich ein Mann aus den Büschen der Nordseite und trat auf den Wanderer zu. Der Pfarrer erschrak; bevor er aber etwas sagen konnte, sprach der Fremdling: «Eer Pfaffe händ s Wäse nöd, s Wäse händ er nöd.» Dann, ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand der Mann über die steile Böschung hinunter in die dichten Tannen beim Gröppen. Wenn man den Pfarrer bat, den Mann zu beschreiben, konnte er keine näheren Angaben machen. Es sei, nach dem Benehmen zu schliessen, ein Büscheler gewesen, sagte er, ein Mann aus den Wäldern. Eine Pelerine habe er getragen, wie man sie etwa bei Schäfern sieht, und einen grossen, breitrandigen Hut, so dass man das Gesicht nicht deutlich habe erkennen können. Dennoch habe man seinen Blick gespürt.

An einem schönen Juninachmittag hat der Pfarrer von Wald den Büscheler ein zweites Mal gesehen. Er hatte einen Freund mit dem Velo ins benachbarte Städtchen begleitet. Bei der Rückfahrt fühlte er beim alten Gasthaus an der Furt einen fast unüberwindbaren Drang, dort einzukehren. Dies fiel ihm auf, denn er pflegte nicht Wirtshäuser zu besuchen, und trotz des schönen Wetters war er auch nicht besonders durstig. Ausser ihm war noch ein zweiter Gast in der Wirtsstube. Er sass auf der Bank beim Ecktisch, dort, wo die beiden Bankseiten zusammenstossen, lehnte sich weit über den Tisch und umschloss mit den Händen ein Bierglas. Es musste ein alter Mann sein, denn seine unordentlich herunterhängenden Haare waren weiss, die Hände gefurcht, und auch das wenige, was man vom Gesicht sah, war nicht nur verwittert, sondern trug viele Merkmale langen Lebens. Neben ihm auf der Bank lag eine zusammengeknüllte Pelerine und darauf ein grosser Lodenhut. Der Mann beachtete den eintretenden Pfarrer anscheinend nicht. Er schien in eine Art Selbstgespräch vertieft zu sein, denn man hörte ein leises Gemurmel, und auch das Gesicht bewegte sich, wie wenn der Mann spräche. Der Pfarrer bestellte eine Stange Bier und nahm ein paar Züge, konnte dabei aber nicht lassen, den anderen seltsamen Gast zu betrachten. Da stand dieser plötzlich auf, trat vor den Pfarrer, hielt ihm seine mächtige Faust drohend schüttelnd vor das Gesicht, und sprach die gleichen Worte, die der Pfarrer schon in den Gröppen gehört: «Eer Pfaffe händ s Wäse nöd, er händ s Wäse nöd.» Und nach kurzem Zögern: «Natur und Geist; Natur und Geist.» Dann trat der Mann zurück, holte Pelerine und Hut, zahlte der Wirtin beim Hinausgehen und nickte nur kurz zum Abschied.

Die Wirtin, die bemerkt hatte, dass der Pfarrer völlig ratlos da sass, trat zu ihm und sagte: «Kennen Sie den Büscheler nicht? Er kommt so ein-, zweimal im Jahr hier vorbei, spricht aber nichts. Heute habe ich ihn zum ersten mal reden gehört, als er …» Die Wirtin stockte. Sie wollte nicht wiederholen, was der Büscheler gesagt, denn es war ja nicht gerade schmeichelhaft für den Pfarrer. Dieser erkundigte sich: «Wissen Sie sonst etwas über den Mann?» «Er lebt im Wald, hat keine feste Behausung. Man weicht ihm aus, denn er redet mit den Pflanzen und Tieren. Und er ist ungeheuer stark. Man sagt in den Gröppen, er habe mal ein Kalb, das sich verirrt hatte, den ganzen Kohlwald hinauf getragen, als ob es ein kleiner Hund wäre.» «Hat denn der Mann keinen Namen?» «Den kennt man nicht. Ich weiss auch nicht, warum man ihn den Büscheler nennt, denn ich kenne niemanden, der von ihm Büscheli (1) gekauft hätte. Von ihm nicht und vom andern nicht.» «Vom andern Büscheler? Gibt es denn zwei?» Die Wirtin schaute vorsichtig um sich, fasste aber dann Mut, denn es war ja der Pfarrer von Wald, der mit ihr sprach, und der böte sicher Schutz. «Die alte Mettlerin hat mir gesagt, sie habe einmal zwei Büscheler gesehen, hinten in der Kohllochhöhle; sie sassen vor der grossen Höhle. Und einer davon war der Büscheler, der jetzt bei mir war; die Mettlerin hat ihn mir genau beschrieben.» «Und der andere?» «Den konnte die Mettlerin nicht so deutlich sehen. Er sei im Schatten tiefer drin in der Höhle gesessen. Es sei aber der, hat die Mettlerin weiter behauptet, den es schon immer in den Gröppen gegeben. Manchmal reite er auch, und darum heisse es gegen den Alpstein zu ‹Rappenloch›. Er habe einen schwarzen Rappen.» Mehr wusste die Wirtin nicht. Der Pfarrer zahlte, bestieg sein Rad und fuhr nach Hause. Es war ihm sonderbar zumute. Als Pfarrer von Wald hatte er schon manches von alten Wesen, Waldgeistern und auch Zauberern und Hexen vernommen. Er hatte sogar lachend zu Freunden bemerkt, er müsse nicht in die Mission gehen, um Götter fremder Kulturen kennenzulernen, wie er dies ursprünglich gewollt, er hätte hier Gelegenheit genug, mythologische Kenntnisse zu sammeln. Aber der Mann im Wirtshaus war keine mythische Figur, er war real, hatte sein Bier getrunken, bezahlt, Fäuste gemacht. Und darum war der Büscheler keine Einbildung. Was war der Büscheler?

Der Pfarrer von Wald versuchte auf verschiedenen Wegen, sein Wissen über den Büscheler zu vermehren. Aber vom Büscheler sprach man nicht gerne, das zeigte sich immer wieder bei den Nachforschungen.

Zwar gab es neben dem Pfarrer andere Neugierige, die gerne mehr gewusst hätten, doch denen bekam es nicht gut. So hiess es, den Langenegger habe seine Frau immer aufgestachelt, er solle doch mal nachschauen, ob es stimme, dass die Büscheler drunten im Gröppenloch baden, sogar nackt. Darauf hatte sich dann der Langenegger hinter das Erlengebüsch beim Gröppenloch versteckt. Aber wie er so lauerte, wurde er plötzlich von hinten gepackt und mitsamt den Kleidern ins Gröppenloch geworfen, so dass er beinahe ertrunken wäre, denn er konnte nicht schwimmen.

Ob es allerdings der Büscheler gewesen war, der ihn ins Wasser geworfen, wusste der Langenegger nicht zu sagen, denn er hatte gegen das Ertrinken kämpfen müssen und so keine Zeit gehabt, sich umzusehen. Und es konnte ja kaum der Büscheler gewesen sein. Der Langenegger war ein starker Kerl, und so rasch in den Fluss werfen konnte man ihn nicht. So behauptete er mehr und mehr, er sei ausgeglitten, und wenn ihm seine Erinnerung sagen wollte, er hätte doch ein Lachen gehört, ein Lachen, das dann noch eine Weile über dem Gröppenloch weitergelacht hätte, dann sagte er sich, er könne, ja müsse sich getäuscht haben.

Wo der Büscheler wohnt, konnte der Pfarrer auch nicht in Erfahrung bringen. Es gibt stets etwelche Hütten, Ställe oder Heustadel, welche nicht gerade benutzt werden, so dass der Büscheler am einen oder anderen Ort Unterschlupf finden kann. Möglich, dass die Eigentümer von Privatalpen oder die Alpvögte darum wissen, aber sie sprechen nicht davon. Es kam ja vor, dass frisch gespaltenes Holz unter dem Schermen (2) aufgeschichtet lag oder dass gar der Herd noch warm war. Immer aber war alles in schönster Ordnung, und so war es wohl am besten, den Büscheler – denn der musste es ja gewesen sein – nicht zu vertäuben, sonst konnte es sein, dass er Unordnung machte.

Einmal glaubten ein paar Burschen, sie müssten sich nicht an diese Regeln halten, und suchten die Alpen nach dem Büscheler ab. Sie fanden ihn nicht, dafür aber eine Herde Geissen, von denen sie glaubten, sie gehörten dem Büscheler. Und so liessen sie ihre Verärgerung an den Geissen aus, trieben sie auf steile Bänder, von denen sie kaum mehr herunterspringen konnten, und neckten sie mit Salz, das sie ihnen zum Riechen boten, nicht aber zum Schlecken gaben. Plötzlich aber stürzte sich die ganze Herde auf die Burschen. Diese mussten auf Tannen klettern und dort warten, bis die Geissen sich verzogen. Die Burschen beteuerten zudem, der Bock sei auf zwei Beinen auf sie losgerannt. Im Dorf hiess es, es könne nur der Teufel gewesen sein. Der Senn vom Pfingstboden aber, als er hiervon hörte, nannte das alles eine Lumperei, es seien seine Geissen gewesen, und sein Bock gehe nie auf zwei Beinen, und wenn die Buben nochmals seine Geissen vergelsterten (3), werde er schon zum Rechten schauen. Seither hat niemand mehr versucht, es mit den Geissen aufzunehmen – man konnte ja nie wissen.

Besonders aber verwirrte den Pfarrer bei seinen Erkundigungen, dass mehr und mehr von einem jungen Büscheler gesprochen wurde. Nun konnte man aber den Alten, den die Mettlerin gesehen zu haben glaubte – sie bestätigte ihre Aussage auch dem Pfarrer gegenüber –, unmöglich als jungen Büscheler bezeichnen, und auch der Pfarrer hätte den Mann, der ihm in der Gröppen erschienen, nicht jung nennen können. Den Büscheler aber, den er im Wirtshaus getroffen, der war ganz eindeutig ein alter Mann, daran gab es nichts zu rütteln. Und doch erzählte ihm einer von der Schönau, dass der junge Büscheler schon mehrfach dort aufgetaucht sei. Er kaufe im kleinen Lädeli allerlei Dinge für den Alltagsbedarf, wie sie etwa in den Berghütten benötigt werden; Petroleum, Streichhölzer, Mehl, Teigwaren, Würste und dergleichen mehr. Dann gehe er jeweils in die Wirtschaft, trinke schweigend und bedächtig einen halben Roten und verschwinde dann mit freundlichem, aber knappem Gruss in die Berge. Gesprächig sei er nicht und oft gebe er auf Fragen Antworten, die mehr verwirrten als klärten. So hielt es der Pfarrer von Wald für richtiger, sich an das zu halten, was die alte Mettlerin erzählte, und an das, was er von Lärchenbodenbauern erfuhr, die zwar wortkarg aber seit jeher mit dem Büscheler verbunden waren und in manchem so lebten, wie sie glaubten, dass es dem Büscheler recht sei.

(1) Reiswelle, für Kachelofen gebündeltes Holz
(2) Vordach, auch verlängertes Dach bei Alphütten
(3) in Schrecken versetzen


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 394–397.

Erstpublikation: Paul Bänziger: Geschichten um den Büscheler und andere Wesen. Maur-Zürich: IKOS-Verlag, 1994. S. 9–13.