Literaturland


Georg Baumberger

Ein Rendez-vous beim ‹Chuetli›

1900

Wir waren vor zehn und mehr Jahren ein Dreiblatt im appenzell-ausserrhodischen Hauptorte Herisau. Oberhaupt war ein älterer Mediziner, der sich um die Errichtung der mustergültigen Krankenhäuser seines Halbkantons unvergängliche Verdienste erworben hat; er war seiner Zeit ein Lieblingsschüler von Virchow und steht unter seinen schweizerischen Kollegen in hohem Ansehen. Abkömmling einer alten Herisauer Familie, steckte ein Stück vom Bestteil eines alten Schweizer Aristokraten in ihm, ohne ihn am Anschluss an eine moderne Auffassung zu hindern. Und wie alle Männer von Geist bewahrte er sich Liebe und Verständnis für die jüngere Generation. Wir beide anderen gehörten dieser an, der eine ein hochveranlagter, junger Oberförster, der andere ein noch jüngerer Redakteur, der eben bei den ersten Versuchen angelangt war, die Eierschalen von sich abzuschütteln.

Unser Arzt besass eine hübsche, grosse Alp, die ‹Langfluh›, hinten beim Rossfall am Fusse des Säntis.

Es ist dorthinten eigenartig schön: nichts als Tannenwald und Felsen und Alpen und, enge ringsum, schöne Berge. Es herrscht eine wohlige Einsamkeit, Weltabgeschiedenheit und Weltverlorenheit, und doch war man der Welt auch wieder nahe genug, um sie mit der blossen Hand zu erreichen. Und an Menschen hat es dort hinten nichts als Sennen und wieder Sennen und struppige Holzhauer und Fuhrknechte.

Dorthin zogen wir das Jahr über manchmal, wenn es galt, der Welt für ein paar Stunden zu entrinnen. Wir liessen uns dann von der alten Rossfallwirtin den ‹schlafenden Napoleon› an den obersten Säntiskonturen zeigen, ohne ihn je zu entdecken, oder hörten ihr bitterlich Klagen an, wie die alten Knochen ihres Mannes nur dann, aber auch nur dann noch etwas taugten, wenn er mit einer Jungen tanze wie ein – Narr. Oder wir stiefelten auf der Alp herum, besprachen alpwirtschaftliche Verbesserungen – der Oberförster war eine Autorität darin –, liessen uns vom Sennen Milch reichen und redeten mit ihm über seine Kühe und Schweine und über Butter- und Käsepreise.

Einen zu besuchen, haben wir auf unseren Touren nie ausgelassen, das war der ‹Chuetli›, der Schiffliwirt in der Grünau, auf halbem Wege zwischen Urnäsch und Rossfall.

Der ‹Chuetli› war viel und alles in einer Person: Richter, Alprat, Spezereihändler, Wirt, Senn, Vieh- und Schweinezüchter, Butter- und Käsehändler und vor allem war er ein richtiger Appenzeller: ein wenig zurückhaltend, kühl und etwas wortteuer, und doch gemütlich, gescheit und verständig, vor allem auch witzig und sarkastisch. Für uns war er der Herr Richter; aber im Volksmunde hiess er doch nur der ‹Chuetli›. ‹Chuetli› (Konradchen) hatte ihn seine Mutter nach der Taufe genannt, und so wird er jetzt dort hinten bis ins graue Alter hinein geheissen. Und wie sein Wesen, so war auch seine Gestalt typisch. Etwas kurz gewachsen und wohlbeleibt, war alles kugelrund an ihm, kugelrund der Kopf, kugelrund die zündroten fleischigen Wangen, kugelrund sogar die fleischigen Ohrenläppchen und kugelrund die Muskulatur an Unter- und Oberarmen. Denn nach echter Sennenart trug er die Hemdärmel stets aufgekrempelt. Und Beine hatte er; sie hätten für das gesamte Choristenpersonal einer Hofoper ausgereicht. Und rund wie der Vater, war die ganze ‹Chuetli›-Familie, die wackere Frau, die zu Mittag stets ein Stück treffliches Selbstgeräuchertes für uns alle hatte, und rund die kleinen ‹Chuetli›-Buben und -Mädchen, die unzertrennlich am Schürzenzipfel der Mutter hingen, und hinter ihr hervor scheu nach den Städtischen schielten.

Nun stelle man sich unter der Wirtsstube beim ‹Chuetli› kein komfortables Lokal vor.

Sie war ein länglicher Parterreraum mit vielen kleinen Fenstern und den Zugladen davor, nach der Bauart des Appenzellerlandes. An der Wand den Fenstern entlang waren Sitzbänke angemacht. Unten war ein langer Tisch aus Tannenholz für die gewöhnlichen Gäste, oben ein Tisch mit eingelegter Schieferplatte für die Honoratioren. Im Winter spendete ein mächtiger Kachelofen die nötige Wärme, und neben den beiden Tischen bildeten Stühle, ein altes Büffett, zwei rauchige Hängelampen und einige verblasste Farbenbilder, wie man sie auf den Jahrmärkten kauft, so die Altersstufen des Menschen und das Leichenbegräbnis des Jägers im Walde, das Mobiliar der Stube.

So oft man kam, fand man interessantes Bergvolk dort: irgend einen bäumigen Holzknecht, faul bei einem Glase Branntwein plegernd und riesigen Tabakqualm vor sich hinblasend, beim Weine einen Sennen in scharlach-roter, silberknöpfiger Weste und weisser, bestickter Drilchjacke, Kaffee schlürfend eine alte, redselige Hausiererin mit grossen Zahnlücken und grossem Fangzahn im Munde, ihren Wunderbalsam und ihre Heilsalbe lobpreisend und über den Unverstand der studierten ‹Dökter› wetternd, und weiter von jenen zigeunernden Existenzen, die in keinem Bergthale fehlen und die momentane Abart der Bohemiens der Grossstädte sind. Meist ehrliche Leute, so lange sonst nichts los ist, gefährlich aber sowieso nie.

Wir setzten uns an den obern Tisch; der Herr Richter gesellte sich zu uns, und es wurde nach Noten gejasst; d.h. Karten gespielt. Denn das war eine Aufmerksamkeit, die man ihm erweisen musste. Jetzt demaskierte er sein eigenstes Wesen. Er, der sich sonst als fleischgewordene Passivität, als wortkarges Phlegma gab, von dem man annehmen mochte, seine Frau müsse ihm des Morgens das Sennenpfeifchen in den Mund stecken und beim zu Bette gehen wieder herausnehmen, langte jetzt, ohne mit einer Miene zu zucken, von Stich zu Stich und mit dem Munde von Hieb zu Hieb gegen die ‹Herren› aus, beissend und schlagend, dass der Holzknecht unten am Tisch ein- über das anderemal laut aufwieherte und die zahnlose Hausiererin bewundernd meinte: «Der ‹Chuetli› ist halt noch ein Mann!» Und die nächsten Tage sprach man von der Grünau weg bis zum Rossfall immer wieder davon, wie der ‹Chuetli› die Herren ‹abgeschirrt› habe.

Es waren köstliche Stunden dort, die reichen Stoff zu Volksstudien boten!

Aber dann kam der eine als Professor an das eidgenössische Polytechnikum nach Zürich, der andere an die Spitze eines Blattes in St. Gallen, und mit der Rossfallpoesie war es zu Ende.

Nach mehr als zwölf Jahren erinnerten wir uns wieder ihrer, ein gewisses Heimweh stellte sich ein, und so wurde Punkt zwei des Ferienprogramms: «Rendez-vous beim ‹Chuetli›». Der Nachmittag nach dem St. Galler Kinderfest fand alle drei dort. Es war jedoch nicht mehr das Schiff in der Grünau mit der niederen rauchigen Stube, mit dem dicken Kachelofen und den rauchigen Lampen mit Blechschirmen. Der Herr Richter hatte sich weiter thalauswärts eingekauft. Sein nunmehriges Lokal hatte mit glänzend blauer Ölfarbe angestrichenes Getäfer; die Tische waren spiegelblank lackiert und mit blassroten Teppichen bedeckt, und die Hängelampen besassen elegante Porzellanglocken und Auerbrenner. Wohl war der Herr Richter unterdessen noch runder geworden, und das Sennenzeichen trug er noch immer im Ohr; aber er war auch am Werktag sonntäglich sauber angezogen, und trug es sich auch noch barärmelig, so war das Hemd nicht mehr aus farbigem Baumwollstoff, sondern aus weisser Leinwand, und die Hemdärmel waren nicht mehr aufgekrempelt, sondern vorn zugeknöpft, wie bei jedem ordentlichen Ratsherrn; mit einem Worte, man sah ihm jetzt den reichen Mann an. Der ‹Chuetli› von ehedem war verloren gegangen. Und für den Branntwein trinkenden und auf den Boden spuckenden Holzknecht gab es in diesem fast eleganten Lokal auch keinen Platz mehr, und keinen mehr für den Bergzigeuner mit den stets gespitzten Ohren, höchstens noch für die Hausiererin mit den Zahnlücken und dem grossen Fangzahn, denn das frisst sich überall hinein. –

Wir jassten wieder, suchten die alten Scherze wieder hervor; aber es war nicht mehr wie damals; keiner mochte es dem andern sagen, und dennoch fühlte es an jedem anderen, so sehr dieser andere sich Mühe gab, gerade das zu verbergen. Es gibt eben Episoden, die man wohl in der Erinnerung fortleben lässt, aber nicht vom Tode soll auferwecken wollen, wenn sie dahin sind, Dinge, die man nicht wieder lebendig machen kann, wenn die Verhältnisse verschwunden sind, die ihnen ihr eigenstes Gepräge gaben.

Ich verreiste schon mit dem nächsten Zuge ins Innere der Schweiz, gedachte mit einer gewissen Rührung der Rossfallpoesie längst vergangener Jahre, aber, offen gestanden, ohne Wehmut des missglückten Versuches, ihr neues Leben einzuflössen.

Wir alle waren ein wenig daraus heraus gewachsen. Das that der Freundschaft nicht Abbruch und nicht der gegenseitigen Achtung vor einander.

Wem wäre ähnliches je erspart geblieben?


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 58–61.

Erstpublikation: Georg Baumberger: Grüess Gott! Volks- und Landschaftsbilder aus der Schweiz. Illustriert von Hans Wieland. Einsiedeln: Verlagsanstalt Benziger, 1900. S. 21–25.