Literaturland


Werner Bucher

Fladehus, Robert Walser, Seelig & Co.

2009

Werner Bucher in der Rolle des verkannten Schriftstellers Alois Pfister ist Stammgast bei der Wirtin Maja Niederer im ‹Fladehus›, einer Beiz im Herisauer Schwänberg, unweit der Heil- und Pflegeanstalt, in der Robert Walser die letzten 23 Jahre seines Lebens verbrachte. Pfister trinkt sein drittes Zweierli.

Ich glaub’s nicht, ich glaub’s nicht, bin überglücklich!, die zwei können nur der Seelig … und der mir halbwegs bekannte Walser sein, beide mit nassem Hut und nassem Schirm, den Walser, den erkennt man auf den ersten Blick, schaut irgendwie verstrubbelt und seltsam aus mit seinem Schnauz, dem braunen Hut, der grauen Krawatte und dem Gilet, erinnert mich auch auf den seltenen Fotos an einen Bauernknecht in den Fünfziger Jahren, der sich für den Ausgang oder für die Sonntagsmesse gesunntigt hat, nicht für halbwegs hübsche weibliche Wesen aber zog sich der Walser sonntäglich an, für die ist er sowieso in Sachen Auftreten viel zu demütig, zu umständlich, zu altmodisch, ein wenig gleicht er in optischer Hinsicht sogar dem grässlichen Adolf Hitler oder eher dem Charlie Chaplin, schau, Alois, schau!, beide ziehen comme il faut den Hut vor dir, stellen die Schirme in den Holzbottich, der aus deiner Sicht wie ein offenes Fässchen aussieht, werfen ihre altmodischen, vermutlich tropfenden Pelerinen über denselben Stuhl, reiben die Hände, versuchen sie zu wärmen … und sitzen jetzt, ich kann’s nicht glauben!, ganz selbstverständlich zu mir an den Tisch, hocken nicht vor dem Wärme vermittelnden Kachelofen ab!, das kann nicht sein, ich, mit Walser am selben Tisch, mit diesem Grossen der Schweizer Literatur!, werd ihn offen fragen, ob er oben in der Klinik immer noch Sätze aufs Papier kritzelt wie früher in der Waldau oder ob er tagtäglich seine Zeit nichts als verplempert, würd ihm sofort einen Bleistift schenken, sofern er den will, damit er neue Geschichtchen, Notizen und Skizzen schreiben kann, Germanisten brauchen doch Arbeit, können nach Walsers Tod für viel Geld sein Gekritzel entziffern, Nachworte, Einleitungen und Doktorarbeiten verfassen und damit Frau und Kinderlein ernähren, schrieb sehr luftig früher und poetisch, der arme Kerl dort, hat Dramalette hingezaubert, ist nie ein schwermütiger und überzeugender Realist à la Glauser gewesen, hockt entsprechend still da, schaut auf den Seelig, nicht auf die plötzlich wieder aufgetauchte Maja und schon gar nicht auf meine Wenigkeit, soso, bedächtig zündet er sich eine Zigarette an, Marocaine oder was, wieso schweigt er derart stur, wieso?, Maja hat sich ja höflich erkundigt, was sie möchten, ach, jemine, die Bestellung erhält sie vom Vormund, dem schmalen Wurf von einem Mann, was, zwei grosse ‹Ghüratni› (1) und zwei Chäsfladen!, die haben aber einen Mordshunger keine zwei Stunden vor dem Mittagessen, irgendwie zwar begreiflich an einem verregneten Herbsttag wie dem heutigen, da brauchen Wandervögel etwas Warmes zwischen die Zähne, brauchen Kalorien, sind auf längeren Spaziergängen rasch unterzuckert, wie Klugscheisser und -scheisserinnen diesen Zustand bezeichnen würden, bewusst verberg ich mein Notizheftehen unter den drei Bierdeckeln, will nicht, dass sich der Seelig erkundigt, ob ich ebenfalls schreibe, zum Glück kennt er mich nicht, in meinen Büchlein hat’s ja nie eine Foto von mir drin, dafür hat der brave, an mich als Autor glaubende Ruedi Müller zu wenig Geld, oh, Maja lächelt den zwei Vögeln herzlich ins Gesicht, so, wie nur sie’s kann, eine feine Frau, eine halbe Mutter, mit keinem Wort deutet sie an, dass sie beide seit etlichen Jährchen mit Vor- und Nachnamen kennt, unlängst hat sie mir verraten, er, der Walser werde auf einmal giftig und beginne zu schimpfen, sobald ein literarisch interessierter Gast ihn auf seine Bücher anspreche, verzichte drum doch besser auf meine eher stupiden Fragen, bring sie ein andermal vor, ja, war das vor langer Zeit ein grosser Dichter mit seinen kurzen, zauberhaften Texten!, solche Geschichten und Stimmungsbilder könnte ich niemals schreiben, dazu fehlt mir seine ziemlich skurrile Demut, seine mir unverständliche Bescheidenheit, ich mag’s auch nicht, mich in meinen Texten als Schreiberling zu verspötteln und schlimmste Erfahrungen in schwebende Bilder umzusetzen, meine sind nicht schwebend, sind fast auf jeder Seite mit Zeitkritik gespickt, sind halbe oder ganze Aufschreie, nur Gierige, Ehrgeizige, Machtsüchtige haben im deutschen Sprachraum Erfolg, in der Literatur wie vermutlich in sämtlichen Lebensbereichen, ein Glück, dass ich mein Sabinchen habe und nicht völlig allein bin, […] ach!, der Herr Walser kann reden, kann das Maul auftun, ich staune und verstehe kein einziges Wort, er brummelt mehr in sich hinein als er spricht, wird verbittert sein oder jenseits von Gut und Böse, darüber könnte ich, falls ich dazu Lust verspürte, ein wunderbares Gedicht schreiben, ein Robert-Walser-Gedicht, so rein war er, so ohne Ambitionen, so ohne Ehrgeiz, bevor er nahezu alles von sich abschüttelte, die Rolle des Dieners (2) aufgab und sich als Dichter und Menschlein vollends aus dem Literaturbetrieb zurückzog, Reinheit, Sensibilität, Konsequenz erträgt unsere Welt nicht, sie ertrug auch den Hölderlin nicht, den Lenau, den Büchner, die Droste, den Mörike, erst Jahrzehnte später werden Verpasste von Nisch und dessen Trabanten hochgejubelt, erst sehr viel später erhalten sie von diesen Herren und Damen den Status der Verkannten, so kam es zum Walser-, zum Glauser-, zum Hölderlin-, Büchner-, Lenau-, Heine- und Mörikepreis, ach nein, dummer Alois!, ereifere dich nicht derart nutz- und zwecklos, heb lieber dein Gläschen den beiden mit einem Lachen entgegen, die werden staunen, dass du sie einbeziehst, ach nein, du heilige Madonna, die staunen nicht, spielen mein Spielchen nicht mit, einzig der Seelig nickt mir halbwegs zu, der Walser dagegen schweigt und lächelt auf eine unbeschreibbare Weise in sich hinein, sieht sehr zerknittert aus, wie ein verschüchtertes Mäuschen, wie ein schrulliger Zwerg, um den jeder einen Bogen macht, wird’s kaum mehr über viele Jahre schaffen, war in Bern, Biel, Thun, Berlin, in Zürich an der Trittligasse, in Herisau und anderswo, immer einsam, immer ohne Frau und meist in schäbigen Mansarden oder Anstalten zu Hause, da hab ich’s besser, bedeutend besser, mit nahezu Fünfzig fand ich meinen Schatz, mein Sabinchen, und habe zudem einen nicht üblen Job oder hab ihn nicht, ah, hör auf, deine Lage weiter derart zu preisen!, die vollen Krüge werden gebracht, die verheirateten, ich will nicht länger im ‹Fladehus› bleiben, Walser spricht sowieso kein einziges Wort mit mir, hebt nicht mal den Mostkrug in meine Richtung, nur der Seelig macht’s, zeigt ihn der Wirtin, zeigt ihn mir, soll er trotzdem selig werden, dankend verzicht ich auf seine Auszeichnung, auf sein fast hingehauchtes «Prost», lieber ruf ich, was ich mir soeben vorgenommen habe, jetzt, nicht erst überübermorgen, also, jetzt, Alois, jetzt: «Ich möchte zahlen, Maja, muss ein Haus weiter, komme morgen ganz sicher wieder oder spätestens übermorgen!», ohne die zwei dort, ohne sie!, gehöre nicht zum Verein ‹Fladehus, Robert Walser, Seelig & Co.›, werde nie deren Mitglied werden, nie und nimmer.

(1) Ein grosser Krug halb mit saurem, halb mit süssem Most gefüllt, ein bekanntes Getränk
im Appenzellischen (vom Wort ‹verheiratet›).
(2) Robert Walser hat im Jahre 1905 sogar eine Dienerschule besucht.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 578–580.

Erstpublikation: Werner Bucher: Fladehus, Robert Walser, Seelig & Co. In: Ebd. Oder: Die Frau, die alle Probleme löst. Zürich: Littera Autoren Verlag, 2009. S. 115–134, hier 119–122.