Literaturland


Heidi Elmiger-Bänziger

Wasserstimmen

2013

Aus dem Fluss steigt der Nebel,
kriecht hinauf bis zum Wald.
Auf dem Baum hockt eine Krähe,
es ist grau und so kalt.
(Nach einem Kinderlied)

Es ist Martin, diesmal. Im weissen Totenhemdchen liegt er, einen Verband um den Kopf, lächelt nicht. Seine Hände sind gefaltet. Wachsgeruch hängt im abgedunkelten Raum, die Gaststube nebenan ist leer. Lang und weiss die Kerzen links und rechts am Kopfende des Kindersarges. Weiss auch die Lilien. Sie stehen in hohen Vasen am Boden, verdecken den Fernsehapparat, auf dem Martin vergangenen Mittwoch noch die Kinderstunde geschaut hat. An der Längsseite des Sarges ein Nelkengesteck, davor das silbrig gerahmte Foto. Martin, fünfjährig, im Kindergarten, zierlich, bang, ein halbes Lächeln um Mund und Augen. Nur auf dem rechten Rand des kleinen Holzstuhls sitzt er, sitzt vor dem geschindelten, weiss gestrichenen Haus mit den grauen Fensterläden, dessen Untergeschoss den Kindergarten beherbergt. Mit steifen Fingerchen hält Martin den Wackelelefanten, den die Kindergärtnerin viel zu selten aus dem Schrank holt. Wenn man das graue Holztier antippt, kippelt es von selbst über das schräg gestellte Brett.

Die Augenlider flattern. Mir ist schlecht. Speiübel. Das Zimmer rückt von mir weg, der Lehrer, die Mitschüler. Es wird still. Eine Stille, als sei ich taub. Kaltes Wasser, in mein Gesicht geklatscht, holt mich zurück. Ich bin wütend, wütend auf meinen Körper, den ich nicht verstehe, der mich im Stich lässt, alle drei Wochen blutet, der mich daran hindert zu rennen, die Strasse hinauf ins Dorf, hinunter zu unserm Haus, wie ich es immer getan habe. Wütend bin ich auch auf meinen Vater, den Metzgermeister, der nichts zu bemerken scheint, mich anfährt, wenn ich nicht schnell genug unterwegs bin mit dem Korb voller Würste. Der Lehrer weiss nicht, was er mit mir, dem Nichtmehrkind mit dem fahlen Gesicht, anfangen soll, schickt mich nach Hause. Ob jemand mich begleiten müsse? Ich bin zwölf, finde den Weg alleine. Beim Bäcker Frei biege ich ins Moosgässchen ein, steige zur schmalen, steinernen Brücke hinunter, die den Dorfbach überspannt. Plötzlich ist das Flattern wieder da, die Übelkeit, die Stille. Ich muss mich setzen. In die felsige Höhlung setze ich mich, dorthin, wo der Bach wieder aus der Betonröhre tritt, seinem engen Bett unter der Hauptstrasse. Niemand soll mich sehen. Mit beiden Händen schöpfe ich Wasser, lasse es übers Gesicht rinnen. Nochmals. Nochmals. Dann sind die Hände leer, doch das Wasser läuft weiter, hört nicht auf zu fliessen, schiesst auf einmal wild daher, lehmig braun, braust an mir vorbei, greift nach meinen Schuhen, dann nach den Beinen, nach dem Bauch. Äste jagen vorbei, ein Baumstamm. Steinbrocken knallen an den Fels in der Höhlung. Die Flut wird mich mitreissen, fortspülen. Ich kralle mich an die Nesseln, spüre nicht das Brennen der winzigen Haare. Ein Gewitter, denke ich, es muss ein Gewitter sein. Entsetzlich, ein Novembergewitter! Das Wasser schlägt über mir zusammen. Ich treibe mit dem Geröll bachabwärts, neben entwurzelten Bäumen, vorbei an unserem Haus, unter der Mühlbrücke hindurch, krache mit dem Kopf immer wieder an die moosüberwachsenen Mauersteine am Rand des Bachbettes. Bei der Mündung werde ich in den Fluss gespült. Stille.

Regungslos hockt sie vor mir und starrt mich an, die schwarzweisse Katze der Nachbarn. Einen Moment lang betrachte ich sie, verwundert, bemerke den Bach hinter ihr, der ein Rinnsal ist. Nach Hause, denke ich müde, ich muss nach Hause. Dann richte ich mich auf, verscheuche die Katze, laufe den Weg hinunter zum Mühlacker. Es ist Freitag. Ein Wochentag, an dem alle zu tun haben. Ich steige hinauf in meine Kammer unter dem Dach, lege mich in den Kleidern aufs Bett. Nachdenken, ich muss nachdenken. Über den Bach. Das Wasser.

Der Bach hinter dem Haus
Dezember. Winterruhe am Bach. Gläserne Zapfen wachsen an den Ufermauern, die Steine sind mit einer dünnen Eisschicht überzogen, lautlos fliesst das Wasser durch eine schmale Rinne in der Bachmitte. Im Vogelbeerbaum plustert sich eine Amsel, pickt von den karminroten Beeren. Montags sind die Kälber jetzt nicht mehr, wie im Sommer, am Röhrenzaun hinter dem Haus angebunden, sie stehen im Stall, bis sie zur Schlachtbank geführt werden. Auf den Fensterscheiben sind über Nacht Eisblumen gewachsen. Sie verwehren den Blick auf den Bach. Das Haus im Dornröschenschlaf.

Im Frühling, wenn Schlüsselblumen blühen und am Bachufer goldgelbe Sumpfdotterblumen, wenn die Wiese auf der anderen Seite des Baches voller Gänseblümchen steht, wenn Leintücher, frisch gewaschen, auf der Terrasse vom Wind gebläht weiden, hänge ich mich ans Röhrentor; das längst keine Funktion mehr hat, schaukle über Wiese und Bach hin und her, hin und her; summe. Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald.

In der Zeit von Schlangenknöterich und Storchschnabel springen wir über den Bach. Karolina und ich sind die Jüngsten. «Eins, zwei, drei», rufen die Schwestern, versprechen, uns zu halten, nicht in den Bach fallen zu lassen, wenn der Sprung zu kurz ist. «Eins, zwei, drei!» Karolinas Kleider hängen an der Wäscheleine auf der Terrasse, wir sitzen am Boden darunter und warten. Niemand darf etwas erfahren! Karolina ist unversehrt, bekommt Cola-Frösche und Tiki-Würfel geschenkt. Will nie mehr springen.

Orangerote Hagebutten liegen zum Trocknen auf Zeitungen. In der Kammer mit den geschlossenen Fensterläden liegen sie, schrumpeln mit der Zeit, färben sich langsam braun. Die Heckenrose am Bach hat ihre Blätter verloren. Regen trommelt ans Küchenfenster. Mein roter Ball mit den weissen Tupfen treibt im Wasser, treibt bachabwärts. Der Bruder, Jahre älter als ich, und mutig, versucht ihn herauszufischen. Doch der Ball verschwindet unter der Mühlbrücke. Verloren. Im November schreiten Rabenkrähen über die Wiese hinter der Schreinerei. «Es wird einen Toten geben», sagt die Mutter, «vor der Zeit».

Ein Krug Tee steht neben meinem Bett. Es ist kalt in der Kammer. Jemand muss da gewesen sein, hat das Schiebefenster aufgestossen. Thea vielleicht? Oder doch die Mutter? Ich ziehe die Decke über mich, die die Mutter im Sommer genäht hat, nachts, über die grüne Elna gebeugt, zu müde eigentlich von einem langen Arbeitstag. Es ist still, keine Stimmen im Haus, kein Motorengeräusch von der Strasse her. Es muss Mittag sein. Halb eins. Dann spricht keiner, alle schweigen, damit der Vater den Nachrichtensprecher am Radio versteht. Freitags kommen Tomatenspaghetti und Hackfleisch auf den Tisch. Ich habe keinen Hunger, drehe mich zur Wand. Die Mutter hat sie neu tapeziert, im vergangenen Sommer, als ich weg war.

Der See
Im Sommer war ich am See, bei Eva in den Ferien. Sommer ist dort See. See ist Sommer. Das grosse Haus steht auf einem Hügel, die Fensteraugen sind auf den See gerichtet, auf die Insel darin. Das Haus riecht neu, ist voller Licht und abenteuerlicher Schatten. Überall im Haus das vertraute Drunter und Drüber. Überall Bücher. Für Regentage, an denen der See grau ist, Spiegel des düsteren Himmels. Regentage, an denen Wellen ans Ufer schlagen, blinkende Lichter von allen Seiten vor Sturm warnen. Regentage, die in diesem Sommer nie eintreffen. Der Mirabellenbaum im Garten unterhalb des Hauses trägt kleine, süsse Früchte, Johannisbeerstauden und Himbeerbüsche sind voll behangen. Evas Mutter steht tagelang in der Küche, kocht Konfitüre ein, backt Brot. Wir liegen am See, schauen hinauf ins Blätterdach, hören dem Wispern der Weiden zu. Nachts, wenn die sonnenheissen Körper uns nicht schlafen lassen, flüstern wir. Eva hat einen Freund.

Beim Landesteg warten wir auf das Schiff, das uns auf die Insel bringen wird, sitzen auf den warmen Planken, lassen die Beine baumeln. Eva erzählt vom tiefen Wasser, von Ertrunkenen. Ihre Stimme klingt dunkel, die feinen Härchen auf ihren sonnenbraunen Armen stellen sich auf. Mich schaudert. Wolfgang lacht. Er ist ein Seekind, die Mutter von der Insel, der Vater vom Dorf gegenüber auf dem Festland. Seekinder fürchten das Wasser nicht, auch wenn es die Keller ihrer Häuser überschwemmt. Einer wie Wolfgang kommt mit Schwimmhäuten zwischen Zehen und Fingern zur Welt, damit er den See zwischen Insel und Festland durchqueren kann. «Im See sind Algen», raunt Eva. «Sie schlingen sich um deine Beine, lassen dich nicht mehr los, ziehen dich in die Tiefe. Sind Menschenfänger, Kinderfresser.» Ich bin froh, dass die ‹Stein am Rhein› anlegt, dass wir einsteigen müssen. Eva gehört jetzt zu Wolfgang.
«Gib Acht auf die Algen!», ruft Eva mir nach. Ich bin ein Pflug, teile das Wasser mit Armen und Händen, schiebe die Beine auseinander; schlage die Schenkel zusammen, katapultiere mich vorwärts, lasse mich gleiten. Beim Einatmen sehe ich Wolfgang, der im Boot neben uns her rudert, beim Ausatmen das dunkle Wasser unter mir. «Gib Acht auf die Algen! Beweg dich nicht, wenn Algen deine Beine streifen. Lass dich treiben.» Der See lässt also unter der Oberfläche tückische Pflanzen wachsen, sie fangen für ihn Menschen ein, ziehen sie in die Tiefe. Einsam muss er sein, der See, dass er sich auf diese Weise Gefährten holen muss, die dann doch nicht mit ihm spielen wollen, nie mehr lachen, nie mehr rufen. Was hat er davon, wenn sie leblos auf seinem Grund liegen? Genügt es ihm, sie mit Kieseln und zarten Wasserpflanzen zu schmücken? Dass Schwärme winziger Fische über die Seegräber ziehen?

Ich drehe um, will zurück zur Insel, kämpfe gegen die Wellen. Sie wollen mich zurück ins tiefe Wasser treiben. Immer gleich weit scheint das Ufer entfernt zu sein. «Ruhig. Ruhig bleiben, zählen.» Ich schwimme mit geschlossenen Augen. Öffne sie bei zehn, um die Richtung nicht zu verlieren. Endlich! Beim Bootshaus lasse ich mich ins Gras fallen, trocknen von der Sonne.

Am Nachmittag ist Arbeitsschule. Ich muss aufstehen, sofort, mit den anderen Mädchen um halb zwei vor der Schulzimmertüre stehen, Spitzen an den Ausschnitt des zauberhaften, türkisfarbenen Babydolls nähen. Das Flattern ist augenblicklich da, als ich meine Füsse neben dem Bett aufsetze. Die Stille. Eine Nähnadel mit weissem Faden zwischen meinem Daumen und dem Zeigefinger. Ich ziehe den Faden straff, zu straff, meine Finger schwitzen. Der Faden färbt sich schmutziggrau. Mir ist elend. Ich falle ins Kissen zurück, falle tief und tiefer.

Der Fluss vor dem Haus
Sennen haben in ihrer Alphütte eine Götzenpuppe aufgestellt, aus Käselaiben, aus Steinen und Stöcken, die sie auf den Alpweiden zusammengetragen haben. Sie tun Dinge mit der Puppe, die nicht recht sind. Gottes zorniger Blitz vernichtet die Hütte mitsamt den Sennen. Die Geschichte, die Annas Mutter am Sonntagnachmittag in der Stube erzählt hat, geistert in unseren Köpfen weiter, gruselig, irgendwie sündig. Was sind Dinge, die nicht recht sind? Hinter dem Felsen, beim jenseitigen Flussufer, geschützt vor Blicken aus dem Pfarrhaus, bauen wir Götzenpuppen aus Steinen und Wurzelwerk, aus Lehm, Moos und Schlamm, eine für Fanni und Karolina, eine für Anna und mich. Und wir tun Dinge, die nicht recht sind. Singen für die Puppen, beten sie an, warten gespannt, ja ungeduldig auf die gerechte Strafe Gottes. Am vierten Tag ist Annas und meine Puppe zerstört, die Steine liegen verstreut, Moos und Schlamm sind verschwunden. Gott war das nicht. Fanni und Karolina wissen nichts von der Verwüstung. Wir treten dennoch mit den Stiefeln nach ihrer Puppe. Frieden kehrt ein, als der Fluss hohes Wasser führt und die Trümmer wegschwemmt.

Wenn ich alleine bin mit dem Fluss, ist er mir unheimlich, widerstehen aber kann ich ihm nicht. Donnerstagabend, wenn ich zur Turnhalle gehe, nehme ich die Abkürzung über die glitschige, kleine Staumauer; springe über den moosbewachsenen Kanal mit dem schwarzen Wasser. Ich habe Angst. Man wird mich nicht finden, wenn ich ausrutsche. Der Kanal führt zur Fabrik. An seinem Ende muss eine Turbine sein. Da hinein würde ich geschwemmt, zerstückelt würde ich darin. Angst will mich überwältigen, lähmen, aber ich kehre nicht um. Hinterhältig ist der Kanal hier, gefährlich, man muss ihn überlisten.

Thea steht neben dem Bett, von der Mutter geschickt. Nein, ich mag nicht essen, ich kann nicht aufstehen, mir fehlt nichts.

Der Fluss vor dem Grosselternhaus
Freundlich und klar ist der Kanal ein Stück weiter hinten. Vor ein paar Jahren noch, wenn das Wasser im Sommer jeweils nicht mehr über die Staumauer lief, durften wir die Kniesocken ausziehen, barfuss gehen. Fluss und Kanal waren unsere Badeanstalt. Beim zweiten Schleusentor stiegen wir ins Wasser, auf dicken, schwarzen Autoschläuchen liessen wir uns kanalabwärts treiben, bis zur Brücke. Dort hievten wir die Schläuche an Land, kletterten hinterher, trabten auf dem Uferweglein zurück, der Schlauch rollte wie von selbst auf der Wiese neben uns her. Das Spiel konnte von neuem beginnen, ganze Nachmittage fortdauern.

Einmal, an einem heissen Sommersonntag, kommt sogar die Mutter, legt sich auf der hellbraunen, geblümten Wolldecke neben dem Kanal an die Sonne. Alle Kinder aus unserer Strasse sind da. Die Buben schwimmen und tauchen im Fischerloch unten an der Staumauer, die Mädchen planschen und spritzen im Wasserbecken vor dem ersten Schleusentor. Ich bin eines der jüngsten. Plötzlich spüre ich keinen Boden mehr unter den Füssen, zapple, tauche unter, schnappe nach Luft und weiss augenblicklich: Jetzt ertrinke ich. Es ist Christine, die den Haarschopf unter der Wasseroberfläche sieht, danach greift und mich herauszieht. «Pass auf», schreit sie und schwimmt weiter. Ich lege mich auf die warme Staumauer, bette den Kopf zwischen die Arme, will nicht, dass jemand sieht, wie ich weine. Die Mutter fragt, ob ich mit ihr nach Hause gehen wolle. Nein. Meine gestrickte Badehose muss erst trocknen.

Von da an schwamm ich mit einem Gürtel aus braunen Korkteilen. Meine Schwestern lachten und sprachen vom ‹Wetzsteinschwumm›. Ich verstand nicht, was sie meinten, hatte den Schlosser Wettstein noch nie schwimmen sehen. Als in den Nachbardörfern Schwimmbäder eröffnet wurden, lernte auch ich schwimmen. Der Badeplatz am Fluss blieb leer.

Thea steht wieder in der Kammer, steht neben meinem Bett, schweigt, schaut an mir vorbei, zur tapezierten Wand. Dann: «Es ist Martin. Sein Stiefelchen, das linke, ist ins Wasser gefallen. Beim Fischerloch vor dem Grosselternhaus. Heute, nach dem Mittag. Er hat es holen wollen. Ist ausgerutscht. Hat sich den Kopf aufgeschlagen am Felsen. Einer der Ammann-Buben hat auf dem Schulweg das rote Stiefelchen im Wasser schwimmen sehen, hat den Dorfpolizisten geholt. Der hat Martin gefunden.»


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 142–147.

Erstpublikation: Heidi Elmiger-Bänziger: Wasserstimmen. In: Musterbuch. Texte aus der Ausserrhoder Schreibwerkstatt 2011. Im Auftrag der Ausserrhodischen Kulturstiftung, hrsg. von Rainer Stöckli. Herisau: Appenzeller Druckerei, 2013. S. 19–24.