Literaturland
Ruth Erat
Der Werkzeugkoffer im All
2.
In Berlin, vor der Caprivibrücke,
geht ein Kind an der Hand seiner Mutter, schreit:
Hört endlich auf, ihr Vögel!
3.
Ich laufe von der Karl-Marx-Allee weg,
hinein in die Friedenstrasse,
wo man für die Gräber Begonien verkauft.
4.
Am Küchenfenster an der Friedenstrasse
scheint leichthin möglich,
dass Bäume die Stadt zuwachsen.
5.
Fragst du, ob die Angst davor,
dass in der Schweiz die Gedanken entfallen,
berechtigt ist?
[…]
102.
Hunger befällt.
Sich Brot einverleiben und Wein.
Die verbliebene Beute.
103.
Im See schwimmen alte Frauen und Männer.
Vom Sommer gegerbte Körper steigen aus dem Wasser,
fassen sich an der Hand.
104.
Auf den Farbfotografien im Museum
erzählt der Alte im komplett zerschlissenen und
verdreckten Mantel
Kindern Geschichten. Es war.
105.
Im Fenstergeviert rot und blau und gelb der Rundlauf.
Regennass leuchten die Farben.
Niemand da.
[…]
202.
Nie ist die Verzweiflung der Menschen so greifbar
wie in den langen Nächten,
in die hinein aus Vorgärten Hirsche und Schlitten
und Engel blinken.
203.
Das Bild, das ich wahrhaben wollte:
dass der hochgeschlagene Mantelkragen genügt,
kein Aufgeben ist.
204.
Es ist ein Krieg im Gang,
von dem wir nichts wissen,
nur Bildfetzen sehen – ans Ufer gespülte Tote aus Mogadischu.
205.
Eben noch verlachte man den realsozialistischen
Wirtschaftskollaps.
Nun werden die Banken vom Staat nach dem ver-
höhnten Muster
mit Milliarden gefüttert.
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 501–502.
Erstpublikation: Ruth Erat: Der Werkzeugkoffer im All. Frauenfeld/ Stuttgart/Wien: Verlag Huber, 2009. S. 5, 28, 53–54.