Literaturland


Paul Etter

Wie ich Bergsteiger wurde

1968

Der Bergführer Paul Etter berichtet von ersten Klettererlebnissen im Alpstein. Spätere Touren führten ihn über schwierige Nordwände auf die höchsten Gipfel der Alpen, insbesondere im Winter.

In der Nähe der Heimat und doch in den Bergen wollte ich meine Lehrzeit als Bäcker-Patissier durchlaufen. So zog ich hinauf ins Obertoggenburg, hinauf in dessen oberstes Dorf, ins heimelige, von vielen Bergen umgebene Wildhaus. Fünfzehnjährig geworden durfte ich die Lehre antreten und setzte zuerst allen Ehrgeiz ein, um ein guter ‹Stift› dieser süssen Zunft zu werden.

Nach und nach lernte ich auch nette Kameraden kennen, mit denen ich meine Freizeit und die Sonntage verbringen konnte. Bald gelang es mir auch, sie für die Berge zu begeistern, und hin und wieder bestiegen wir zusammen die schönsten Gipfel der Umgebung. Mit Säntis, Altmann, Schafberg, Gulmen, Mutschen war ich bald sehr vertraut. Doch die Kreuzberge lockten mich, und ich konnte meine Gedanken nicht von ihnen losreissen. Dort hinauf zog es mich, aber der Meister riet mir dringend von solch wilden Klettereien ab. Auch meinen Kameraden waren sie zu gefährlich. So war ich genötigt, ganz allein zu gehen.

Beim ersten Versuch schwindelte mir schon, als ich über den ausgesetzten Grasrücken gegen die Felsen des achten Kreuzberges stieg. Nein – so ein Tiefblick ins Rheintal, das war doch zuviel für mich. Enttäuscht zog ich mich zurück und begann zu ‹trainieren›. Aus meinem bescheidenen Sackgeld kaufte ich mir ein Wäscheseil, übte den Dülfersitz, kletterte in grasbewachsenen, brüchigen Felsen umher und setzte mich grossen Gefahren aus, die ich in meinem jugendlichen Leichtsinn nicht erkannte. Wie oft hätte ich ausgleiten und abstürzen können!

Dann stand ich wieder vor dem achten Kreuzberg. Es stürmte, und der Himmel war bedeckt. Trotzdem hatte ich diesmal schnell das Grasgrätlein überstiegen und die Einstiegschlucht erreicht. Ich stieg durch diese hoch, bis ich an einen etwa acht Meter hohen Felsabsatz gelangte. Er war sehr nass. Etwa drei Meter stieg ich hinauf und blieb dann stecken. Der Wind rauschte auf dem Grat, schwarze Bergdohlen kreischten um mich, und ich hörte die eiserne Gipfelfahne auf dem fünften Kreuzberg knarren. Angst schlich sich ein. Ich kam nicht mehr weiter. Es war einfach zuviel für mich. Mit hängendem Kopf stieg ich wieder ins Toggenburg hinab, einer arbeitsreichen Woche entgegen.

Doch diese Niederlage liess mir keine Ruhe. Darum kam ich eben ein drittes Mal an den Berg. Viele Touristen waren in der Gegend. Ich wollte nicht gesehen werden und schlich mehr als ich kletterte über das mir nun schon vertraute Grätchen in die nahe Schlucht.

Die Felsstufe war diesmal trocken, so dass ich sie besser überklettern konnte. Vor Erregung und Anstrengung keuchend kam ich auf der Scharte zwischen dem achten und dem siebten Kreuzberg an.

Der Tiefblick von hier ins Tal beeindruckte mich so sehr, dass ich auf allen vieren über die weiteren Felsen kroch. Der Gipfel war nun merklich näher gerückt, und nach einer weiteren Kletterei hatte ich ihn erreicht. Kaum wagte ich aufrecht zu stehen, aber die Freude über diesen ersten Erfolg war so gross, dass ich halblaut zu singen anfing.

Im Steinmann steckte ein Gipfelbuch, welches ich gierig durchblätterte. Es war bis fast auf die letzte Seite voll mit Namen solcher, die den Berg auch bestiegen hatten. Nicht nur über den Normalweg, – nein, sogar die Westwand und die Südwand waren schon durchklettert worden. Ich bewunderte diese mutigen Menschen. Dann schrieb ich gross und breit auch meinen Namen ins Buch, und mit winzigen Buchstaben fügte ich das Wort ‹Normalweg› an.

Wenige Minuten später war ich wieder auf der Scharte und hatte dort den Einfall, mich gleich auch noch am siebten Kreuzberg zu versuchen. An der leichtesten Stelle der Westwand, wo sich ein Riss weit hinaufzieht, begann ich. Meter um Meter schob ich mich darin höher. Alle Griffe und Tritte waren dort, wo ich sie zu finden wünschte. Auf einmal stand ich auf einer Felskanzel hoch über dem Tal. Doch wie ich dann auch suchte und probierte, ich kam nicht mehr weiter. So stieg ich zurück und wagte eine Querung nach links. Drei bis vier Meter hatte ich bald hinter mir, dann schien mir ein grosser, warzenartiger Block den Weiterweg zu versperren. Nach ihm sah das Gelände wieder kletterbar aus. Ich fasste den Block mit beiden Händen hinten an, rutschte auf dem Bauch und schwang dann meine langen, dünnen Beine hinüber. Zum Glück war dieses Hindernis rund und abgeschliffen, sonst hätte ich mir dabei arg die Hose zerrissen.

Ängstlich guckte ich von Zeit zu Zeit hinunter auf die Alp, ob ich von jemandem beobachtet werde. Mein Tun so allein war mir doch nicht ganz geheuer. Als ich aber auch auf diesem Gipfel stand, wurde ich von einer so unbändigen Freude gepackt, dass ich in einen überlauten Jauchzer ausbrach. Wanderer und Kletterer gaben mir Antwort. Es war mir, als hätte in jeder ein kleiner Vorwurf mitgeklungen, denn ich habe wohl fürchterlich geplärrt. Vielleicht wollten mir die andern Gebirgler bloss zeigen, wie es tönt, wenn man es wirklich kann.

Das Erreichen dieser beiden Kreuzberggipfel erweckte in mir Kraft, Mut und ein starkes Selbstvertrauen. Der Abstieg verlief ohne Schwierigkeiten. Warzenblock, Riss, Kamin mit Wandstufe und auch das Grätchen hatte ich bald hinter mir; mit eiligen Schritten stürmte ich hier herauf auf den vertrauten Mutschen.

Da sitze ich nun, lasse das Erlebte nochmals an mir vorüberziehen und grüble über meine Zukunft als Bäcker-Patissier.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 316–317.

Erstpublikation: Paul Etter: Gipfelwärts. Frauenfeld: Verlag Huber, 1968. S. 13–16.