Literaturland


Simon Froehling

Lange Nächte Tag

2010

Simon Froehling erzählt in seinem Roman die Liebesgeschichte von Patrick und Jirka: eine Männerliebe in Zeiten von HIV.

Ich war aufgestanden in der Spiegelnacht. War aufgestanden, weil ich mich nicht verbrennen wollte, wie mir das schon oft passiert war, nachdem ich bereits während der ersten Begegnung alle meine Wünsche und Sehnsüchte über eine neue Bekanntschaft gestülpt hatte, so dass diese nicht anders konnte, als mich nur Tage später zu enttäuschen.
Wenn ich nicht aufgestanden wäre –
Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, poltert Vater durch meinen Kindskopf.
Aber ich war.
Und Jirka hatte.
Jirka hatte Sex gehabt.
Es sagt sich so leicht.
Jirka hatte, und ich habe es mir immer und immer wieder ausgemalt in den wenigen Minuten, seit ich Bescheid weiss, und bis jedes vorgestellte, möglichst grell kolorierte Detail sich eingebrannt hat in mein Hirn, bis meine Phantasie so fix war und absolut in ihrer Ausformung, dass ich einen Schritt zurückmachen und das Tableau hätte anschauen können, wie man ein gerahmtes Bild anschaut in einer Galerie, von dem man nicht sicher ist, ob seine Anziehungskraft gerade in der Verstörung liegt.

Der Computer schaltet auf Schlaf.
Ich muss aufs Klo, sagst du.
Ich fasse dich am Arm, halte dich zurück.
Der Bildschirm wird schwarz.
Warum hast du –
Ich weiss nicht, was sagen, und rede deshalb drauflos:
Wie konntest du mich nicht anrufen? Hast du wenigstens geheult, hast du dich bitte mehrmals im Klo eingesperrt bei der Arbeit, um zu heulen und dir zu überlegen, wie du es mir schonend beibringen kannst?
Es hat einen Namen, sagst du und bringst ihn doch nicht über die Lippen.

Weshalb erst jetzt?
Du weichst mir aus, sagst lediglich, ich müsse mitkommen zum Arzt.
Wir haben einen Termin. Morgen um acht.
Ich beisse auf die Zähne, um dich nicht anzuschreien. Nur langsam entspannt sich mein Kiefer wieder.
Du hast es mir eine Woche lang verschwiegen, obwohl ich es höchstwahrscheinlich auch –
obwohl wir die ganze Zeit –
Es hat einen Namen!

Die drei Buchstaben stehen zwischen uns, gross und zu sperrig, um sie alle auf einmal in den Mund zu nehmen. Wir müssen sie einzeln rund lutschen und einbetten in andere Worte, damit die spitzen Enden und Winkel der zwei Konsonanten und des überhaupt nicht weichen Vokals uns nicht den Gaumen zerfleischen. Wir hangeln uns das Alphabet entlang, am H vorbei und auch am I. Unter P finden wir das erste Wort, das wir aussprechen können: positiv.
Wir wühlen weiter, Q, R, S, T, U – V wie Virus.
Erschrocken blättern wir zurück. Unter P finden wir ein weiteres Wort: Plage.
Wir müssen nicht lachen, aber plötzlich fällt die Spannung zwischen uns ab.
Ich kann nicht wütend sein auf dich, obwohl ich wütend sein müsste, weiss ich – auf dich und was du dir und mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit auch mir angetan hast. Was passiert war, wie du sagst, als hätte es wenig mit dir zu tun, ja, als seist du ferngesteuert gewesen in jener teuflischen Nacht.

Doktor Feller hat dir, zusammen mit dem Rezept für die Medikamente, vorläufig nur für einen Monat ausgestellt, man müsse die Nebenwirkungen genau beobachten und möglicherweise die Kombination ändern, einen Brief mitgegeben, worin alles steht, was du zu beachten hast.
Ich will den Brief nicht sehen.
Für einen Monat Medikamente werden deiner Krankenkasse über zweitausend Franken in Rechnung gestellt. Abzüglich Selbstbehalt. Du wagst es nicht, die Kosten auf ein durchschnittliches Restleben hochzurechnen, obwohl du von Doktor Feller weisst, dass eine normale Lebenserwartung durchaus realistisch ist mit den Medikamenten – ausser, du entwickelst Resistenzen. Die Plage ist zur chronischen Krankheit mutiert. Handhabbar, war das Wort, das der Arzt gebraucht hatte.
Handhabbar der Nachtschweiss und der Durchfall, handhabbar das entzündete Zahnfleisch und die kleine Warze, die an deiner Unterlippe gesprossen ist, genau auf der Naht, wo die Lippe in Haut übergeht.
Doktor Feller, bei dessen Name mir immer der Sensenmann in den Sinn kommt, wird sie dir nächste Woche wegätzen.

Ich muss wirklich dringend aufs Klo, sagst du und nimmst meine Hand von deinem Arm.
Ich schaue dir nach.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 212–213.

Erstpublikation: Simon Froehling: Lange Nächte Tag. Roman. Zürich: Bilgerverlag, 2010. S. 103–106.