Literaturland


Mäddel Fuchs

Unterwegs mit Arthur Zünd

2001

In Bild und Text dokumentierte Mäddel Fuchs in seinem Buch Chome gaad das Leben des kleinwüchsigen und sprachbehinderten Hausierers Arthur Zünd (1916–2000), des letzten Hausierers im Appenzellerland.

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Zum ersten Mal bin ich Arthur im schneereichen Winter 1963 begegnet. Ich war als frisch gebackener Kantonsschüler auf dem Heimweg von Gais nach Trogen. Auf einem Weg, der den meinen kreuzte, schwebte wie von Geisterhand geführt ein gelbes unbekanntes Ding über dem Schnee. Es war ein strahlender Tag, ich wollte Wissenschaftler werden und hatte damals noch grenzenloses Vertrauen in die empirische Forschung, wusste also: Es gibt eine Erklärung für alles. Forschen Geistes und zögerlichen Schrittes machte ich mich auf, dieses Phänomen zu ergründen. So ganz gewöhnlich war es schon nicht, was ich an der Kreuzung antraf. Ein kleiner Mann stand da, sogar noch etwas kleiner als ich. Er erschien mir uralt, und er trug eine riesige gelbe Chrenze auf dem Rücken. Diese Chrenze überragte ihn um mindestens 20 Zentimeter, genau jene, die über den hohen Schneemauern zu schweben schienen. Ganz geheuer war mir die Erscheinung dieses kleinen Mannes nicht, aber er lachte und strahlte, wie ich es noch nie gesehen hatte, und er redete drauflos. Vom Gesagten verstand ich nicht besonders viel; immerhin so viel hatte ich aufgeschnappt, dass er Arthur Zünd hiess und, das war besonders erfreulich, dass er süsse Backwaren verkaufte. Hatte ich Geld in der Tasche, so verwandelte es sich sowieso in Süssigkeiten. Ich hatte Geld, die Verwandlung konnte beginnen.

Völlig erstaunt schaute ich zu, wie der kleine Mann die Beine spreizte und, einem Limbotänzer gleich, ganz langsam in die Knie ging, bis die Chrenze am Boden stand. Der Plastiküberwurf wurde aufgeklappt – der obere Leichtholzbehälter war leer. Ob meiner sichtlichen Enttäuschung bebte der kleine Mann vor Lachen, als er den Behälter heraushob. Darunter kam – nun, ich weiss nicht mehr, was zum Vorschein kam. Doch in dieser Erzählung lasse ich mich ein Birnbrot kaufen. Auf die Frage nach dem Preis antwortete der kleine Mann mit völlig wirren Zahlen: «Anderhalbe föfesibezg», lachte laut und strahlte dabei.

Damals wusste ich noch nicht, dass dies Arthurs Standardantwort auf Preisanfragen war. Ein geflügeltes Wort, das er bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten anwandte und über welches er ein ganzes Leben lang lachen konnte.

Das Abzählen des Retourgeldes dauerte seine Zeit, das machte nichts. Keiner von uns beiden war in Eile.

Die Chrenze wurde sorgfältig zugedeckt und musste nun wieder geschultert werden. Der kleine Mann spreizte wieder die Beine und ging ganz einfach umgekehrt vor als beim Abstellen, aber genau gleich langsam. Doch diesmal erschien mir alles noch viel akrobatischer. Staunend sah ich zu, wie er es fertig brachte, tatsächlich mit geschulterter Chrenze dazustehen. Ich hatte damals noch keine Ahnung von Physik, heute weiss ich immerhin so viel, dass die Art, wie Arthur seine Chrenze hob, allen Gesetzen terrestrischer Physik widersprach.

Wir verabschiedeten uns, und beide zogen glücklich von dannen.

Der kleine Mann hatte etwas Süsses verkauft und ich etwas Süsses gekauft. Das Birnbrot hat die ersten Häuser von Trogen nicht mehr erlebt.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 559–560.

Erstpublikation: Mäddel Fuchs: Chome gaad. Der Hausierer Arthur Zünd. Mit Beiträgen von Theo Bruderer und Matthias Weishaupt. Herisau: Appenzeller Verlag, 2001. S. 33–34.