Literaturland


Ottilia Grubenmann

Spitalgeburt

1993

Während über 60 Jahren übte Ottilia Grubenmann in Appenzell Innerrhoden ihren Beruf als Hebamme aus. Ihre Erfahrungen hielt sie auch schriftlich fest: in Notizform und in Tagebucheinträgen. Daraus entstand das zweibändige Werk 200 Praxisfälle.

Am Vorabend des ersten Mai erhielt ich Bericht, eine Erstgebärende, die schon vor einem Monat Alarm geschlagen hatte, habe endlich Blutspuren. Weil sie auch von Wehen sprach, lockte mich das an ihren Wohnort. Sie lief gespannt und steif umher, verkrampfte sich während ihrer angeblichen Wehen, wie wenn es bei ihr schon fortgeschritten wäre. Ich sagte ihr, dass diese Nacht bestimmt noch keine Geburt erfolgen werde und dass sie erst ins Spital gehen müsse, wenn die Wehen ernstlich zunähmen. Also war diese Nacht nichts los. Gegen halb sechs orientierte mich die Nachtschwester von Gais über das, was sich dort nachts ereignet hatte. Zwei Frauen waren eingetreten, wobei die erste der zweiten im Gebärzimmer Platz machen musste, was leicht geschehen konnte, denn die erste hatte nur unbedeutende Wehen.

Somit machte ich mich auf eine lange Wartezeit gefasst. Ich nahm ein Strickzeug mit, das ich während der Wehenpausen zu einem Knäuel aufziehen wollte. Die eine, des unnötigen Jammerns nicht müde werdend, vertröstete ich auf später, da ihr Muttermund noch vollständig geschlossen war. Er fühlte sich ungefähr so an wie die letzte zusammengezogene Runde beim Schlussabnehmen eines dicken Sportsockens. Der Kopf des Kindes stand ebenfalls noch hoch. Wollte man ihn von unten erreichen, musste man die Frau zum Pressen anhalten, sonst griff man ins Leere. Die Drittgebärende jedoch hatte eine Muttermundsöffnung in der Grösse von zwei Franken, und diese Öffnung war so weich, dass sie während des Untersuchs mühelos auf die Weite von fünf Franken gedehnt werden konnte. Dies gibt die Gewissheit, dass mit einer kleinen Unterstützung, manchmal schon mit einem Klistier oder mit ganz wenig Wehenmittel, die Geburt sofort in Gang kommt. Nach dem erfolglosen Klistier, das immerhin den Vorteil einer Darmentleerung hatte, nahm ich die Erlaubnis für ein Wehenmittel entgegen.

Nun zog ich neben dem Gebärbett, bis ich Wichtigeres zu tun bekam, mein graues Strickzeug auf, denn die wirksame Wehentätigkeit kam erst nach der zweiten Injektion in Gang. Zwischendurch wurde ich ans Telefon gerufen, wo ich einer Mutter Auskunft betreffend ihrer Stillschwierigkeiten geben musste. Meine Abwesenheit vom Gebärzimmer hatte nicht länger als fünf Minuten gedauert und schon zeigte die Leuchtkugel oberhalb der Tür auf Alarm. Die Frau wurde vom Blasensprung überrascht, weshalb sie geläutet hatte. Nun mussten noch die letzten Vorbereitungen zur Geburt getroffen werden, um dann erneut zu blinken. Diesmal der diensttuenden Schwester, damit sie beim Durchtritt des kindlichen Schädels mit der Metherginspritze in die Armvene bereit war.

Gleich begann die Frau mit der Austreibung. Beim dritten Pressweh trat der Kopf des Kindes durch, begleitet von einem leisen Stöhnen seiner Mutter, die entschuldigend sagte: «Jetzt werde ich noch wehleidig.» Es war eine Spontangeburt wie tausend andere, und doch ist es immer wieder bei jeder Frau ein anderes, manchmal sehr tief gehendes Erlebnis, das uns stets wieder das wunderbare Geschehen der Menschwerdung vor Augen führt. Das Kind war ein Mädchen. Als ich nach seinem Namen fragte, sagte die Bäuerin im Gedenken an ihr verstorbenes Kind wehmütig: «Wieder eine Maya», denn ihr letztes Mädchen war auf tragische Weise ums Leben gekommen.

Inzwischen war die andere Frau nach Hause verreist und auf Montag bestellt worden, falls die Geburt nicht vorher in Gang kommen würde.

Zu jener Frau, der ich prophezeit hatte, dass ihr Kind diese Nacht mit Sicherheit nicht komme, fuhr ich morgens um vier Uhr, nach getaner Arbeit im Spital. Nun war ihr Muttermund auf ein bis zwei Franken offen, der kindliche Schädel aber immer noch hochstehend. Ich hatte ein Zäpfchen zur Beruhigung mitgebracht und sagte ihr, dass ich mich daheim noch eine Weile hinlegen würde, um sie dann wieder zu kontrollieren. In Wirklichkeit gedachte ich, daheim zu schreiben, denn wenn man das Erlebte nicht sogleich zu Papier bringt, verwischen sich die Eindrücke und etliches geht vergessen. So fuhr ich, den frühen Sonntagmorgen geniessend, unserem Dorfe zu. Der Himmel war leicht bewölkt. Die Berge ergaben eine markante Silhouette, darüber ein Stück freier Himmel, dann wieder die schönen Wolken. Daheim angekommen, orientierte mich meine Mutter über einen Anruf. Ich bedauerte sehr, dass sie als alte Frau noch von abends bis morgens als Telefonistin dienen musste. Dann also doch noch für eineinhalb Stunden – gute Nacht!


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 271–272.

Erstpublikation: Ottilia Grubenmann: 200 Praxisfälle. Bd. 2. Weissbad: Alpstein-Verlag, 1993. S. 307–308.