Literaturland


Gottlieb Heinrich Heer

Die Königin und 
der Landammann

1936

Jakob Zellweger war Landammann von 1802 bis 1818. Den konservativen Föderalisten verband eine Freundschaft mit Hortense Beauharnais, Königin von Holland und Mutter von Napoleon III., die in Arenenberg im Exil weilte. 
Im folgenden Ausschnitt sucht sie Zellweger in Ermatingen im Gasthaus Adler auf, 
um sich von ihm zu verabschieden.

Nun stand er da in der bergenden Ruhe dieses traulichen Raumes und war bereit, noch einmal Hortense Beauharnais zu sehn und zu sprechen. Er wusste, dass diese Einladung ein Abschied bedeutete, und er war auch darauf gefasst und bereitet. Wohl warf dieser Abschied gleich dem Abend ein paar schwere Schatten drohender und endgültiger Aufwühlung und Schmerzlichkeit über ihn hin; aber er wusste sich der ewigen Gesetzmässigkeit, die Abend auf Nachmittag und Nacht auf Abend folgen liess, nun zu beugen. Denn auch Hortense beugte sich ihr in ihrer Weise, das fühlte er stark, und darin einzig lagen ohne Zweifel die Deutung und auch die Not ihrer Entferntheit begründet.

Der Landammann riss sich gewaltsam los aus der Stille. Er trat an den Tisch und griff nach dem Degen, um ihn sich umzugürten. Aber in plötzlichem Erstaunen liess er ihn wieder fallen, indes er auf die Türe starrte, die in den Treppenflur hinausführte. Ihm war, er habe dort ein Pochen gehört. Im bestimmten Gefühl, einer Täuschung erlegen zu sein, schüttelte er den Kopf und langte erneut nach dem Degenknauf.

Aber da pochte es zum zweiten Male, verhalten und dennoch wie ein drängendes Mahnzeichen um Einlass begehrend. Der Landammann öffnete gespannt und ein wenig befremdet über die ungenehme, versäumende Störung die Türe.

Da sie jedoch nach innen aufknarrte, trat er mit einem Ruf der Überraschung einen Schritt zurück, als dürfe er seinen Augen nicht trauen. Eilig schob sich die stark verschleierte und vermummte Gestalt der Königin ins Gemach. Sie schloss die Türe rasch hinter sich und schlug nun ihre Schleier zurück.

«Hoheit!» rief Zellweger verblüfft und verständnisfern aus, als könne er ihr unerwartetes Erscheinen noch immer nicht fassen.

Hortense lächelte sichtlich verlegen und etwas ausser Atem. Sie war hastig die Treppen emporgestiegen und hatte sich von einer Magd des Landammanns Zimmer weisen lassen. Noch ehe sie jedoch ein Wort hervorbrachte, ergriff nun Zellweger ihre beiden Hände, noch stets erstaunt und doch im Gefühl einer unverhofften Freude. Er geleitete sie zum Lehnsessel am Fenster.

«Verzeihn Sie, Herr Landammann, dass ich Sie so unvermutet und zu ungelegner Stunde hier überrasche», sagte sie endlich sich beruhigend.

Zellweger beeilte sich, ihr zu versichern, Ihre Hoheit zu empfangen sei keine Stunde ungelegen. Er setzte sich ihr gegenüber und betrachtete sie besorgt.

«Ich hoffe, dass kein beängstigender Grund Sie zu mir führt», fragte er etwas unsicher und mit dem Blicke ihre seltsame Vermummung streifend.

Hortense lächelte erneut, indes sie nun ihr Haupt ganz von der Verschleierung befreite. Sie legte ihre Hand auf die Rechte Zellwegers, die ihr entgegentastete, und schaute ihn offen an. Ihre Augen kreisten schmerzlich erglänzend.

«Fürchten Sie nichts», begann sie langsam und sich ihm zuneigend. «Ich habe es mir lange, sehr lange überlegt, wie ich ungestört mit Ihnen sprechen könne. Arenenbergs Wände und Türen sind vor Lauschern nicht sicher, und was wir uns zu sagen haben, gehört uns allein. Deshalb kam ich zu Ihnen.»

Zellweger küsste dankend ihre Hand, die unter seinen Lippen leicht erbebte.

«Wir wollen miteinander reden wie zwei liebe alte Freunde», fuhr sie fort. «Das sind wir doch nun schon, nicht wahr, Herr Zellweger?» Sie schürzte den Mund, wie um Verstehn und Verzeihung flehend. Es schien ihr jetzt doch ein wenig Mühe zu schaffen, sich zu erschliessen. Ihr Blick irrte über die Behänge des Alkovens und in die Tiefe des Raumes.

«Ich hoffe, wir werden es bleiben, Hoheit», erwiderte Zellweger, den eine Beklemmung bedrängte. Er ahnte, was ihr auf dem Herzen und in der Seele lag, und er vermochte doch nicht von sich aus das Gespräch auf jene Dinge zu lenken, die sie wahrscheinlich rasch entlastet hätten. Zu sehr fühlte er in diesem Augenblicke seine Schuld an ihnen. Nach einem verhaltenen Schweigen fand Hortense wieder sichere Worte.

«Glauben Sie nicht, lieber Freund, dass ich Sie missverstanden hätte. Im Gegenteil, Ihre Werbung hat mich im tiefsten Herzen geehrt und gefreut …»

«Nehmen Sie sie als das, was sie ihrem Sinne nach bedeutet und einzig zu bedeuten vermag, Hoheit: als ein Zeichen einer grossen und in ihrer Grösse beinahe vermessenen Liebe …», fiel Zellweger ein, und er hob ergeben die Arme, als müsse die Gebärde das Wort und seine Gründe verdeutlichen, er habe gehandelt in Not und Zwang des Herzens.

Hortense richtete den Blick wieder ruhig und warm auf ihn. Ein bitterer Zug umschattete ihren Mund. Sie nickte bedeutungsvoll und um Nachsicht bittend:

«Deshalb eben quält es mich, Ihnen vielleicht weh tun zu müssen …»

«Die Liebe ist gross genug, um dieses Weh auch zu ertragen, Hortense!» versicherte der Landammann sich überwindend. Seine Stimme klang fest und überzeugend.

«Wäre ich als Frau befugt, nach meinem Sinne und nach meiner Neigung zu handeln, weiss Gott, ich hätte Ihre Hand dankbar und gerne ergriffen», sprach die Königin nun lebhafter weiter. Sie fühlte sich erleichtert im Bewusstsein, das Schwerste sei gesagt und verstanden.

«Aber mich binden Pflichten, Herr Landammann, und einzig diesen Pflichten weicht der verlockende Wunschtraum der Liebe. Nichts anderem, glauben Sie mir! Glauben Sie es dem Herzen, das Ihnen Ihre Gefühle erwidert und das Ihnen ewig dankbar bleibt für eine seltene und erlösend schöne Gabe … Aber ich bin nicht vom Schicksal begnadet, erlöst zu werden …»

Sie senkte den Kopf, und eine schillernde Feuchte umkroch ihre Augen. Der Landammann nahm ihn unwillkürlich zwischen seine Hände, um ihn zu halten. Über seine Finger quoll die helle Flut ihrer Locken. Er lächelte qualvoll betroffen: es war, als müsse er ihr nun zu Hilfe kommen gegen sich selbst.

Hortense kämpfte die augenblickliche Schwäche tapfer nieder. Sie löste leicht Zellwegers Hände von ihren Schläfen und hielt sie fest.

«Es sind die Pflichten der Mutter, die mir die Erfüllung eines ureigensten fraulichen Wunsches verbieten», sagte sie. «Mein Kind hat das einzige Anrecht auf mich, weil es mich braucht. Ihm sind vielleicht Wege vorgeschrieben, die ich ihm zu ebnen habe, weil andere sie ihm sonst versperren möchten. Ich muss mich dieser Aufgabe opfern. Mein Leben fordert das von mir. Wenn ich diese Forderung überhöre oder nicht erfülle, hat mein Leben seinen tiefen Sinn verloren, und ich stehe als Schuldige vor meinem göttlichen Schicksal …»

Hortenses Blick starrte an Zellweger vorbei in eine unsichtbare Ferne. Der Glanz ihrer graugrünen Augen bekam nun im Kerzengeflacker einen weithinstrebenden Strahlenkreis. Die mütterliche Sendung leuchtete klar aus ihm. Hortenses Gedanken schienen nur noch um die Gestalt ihres Sohnes sich zu schlingen und alles andere in ihr auszulöschen.

Der Landammann lauschte gespannt und ergriffen, ohne sie zu unterbrechen, was sie ihm anvertraute. Das sprach nicht mehr die Frau, die er liebte, nicht mehr der zarte spielende Mund, dem er einst glutvoll verfallen war, das sprach die von ihrer Aufgabe überzeugte und zu jedem Kampfeinsatz bereite mütterliche Königin: «Ich muss Louis auf alle Fälle den Weg zum Throne Frankreichs bereiten, den andere, Unberufene erstreben. Ist aber noch einmal ein Bonaparte dazu ausersehn, die Geschicke der Heimat zu leiten und über sie zu herrschen, so ist es mein Sohn! Diese Gewissheit lebt als heilige Überzeugung in mir. Noch sind die Möglichkeiten nicht abzusehn und auszuwägen; aber die Schicksale der Länder haben ihre eigenen, oft dunklen Werdegänge. Es gilt, sie zu verfolgen und wachen Sinnes sie zu begleiten, damit nicht im Augenblicke der Entscheidung das zupackende Werkzeug der ungeübten Hand entfällt …»

Der Landammann lauschte mit wachsendem Erstaunen, weniger über das, was er hörte, als über sich selbst … Wie aus einer fremdgewordenen Vergangenheit, die er längst abgeschlossen, dämmerte ihm die Erinnerung an eigene Worte herauf … Hortense Beauharnais ist eine gefährliche, eine politische Frau … Er schloss kurz die Augen, und er fühlte so doppelt heftig die Wärme, die von ihrer Hand in die seine hinüberströmte. Ihm war, er müsse sie zurückziehn, aber er brachte die Kraft dazu nicht auf. Er lauschte weiter diesen Worten, die ihn früher ganz ohne Frage in die feurigste Auflehnung, in die schroffste Abwehr getrieben hätten. Das wusste er, und er überdachte es auch; aber der Gedanke besass keine Macht mehr über ihn. Er prallte ab, wie unverstanden und fremd, und schien einem nicht mehr wirkenden Leben anzugehören. Es gab da eine tote Vergangenheit, eine Vergangenheit seltsamsten und kaum mehr erklärlichen Hasses, und die Liebe wandelte das Leben und den Menschen bis ins Tiefste um … Der Landammann begriff noch kaum, wie er das alles nun verstand, im Zwange des Blutes verstehn musste, was die Königin ihm eröffnete und warum es ihm als lebenswichtige Selbstverständlichkeit für sie erschien und notwendig im Werden und Vergehn der Dinge beschlossen.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 219–222.

Erstpublikation: Gottlieb Heinrich Heer: Die Königin und der Landammann. Roman. Zürich/Leipzig: Orell Füssli, 1936. S. 254–259.