Literaturland


Hermann Hesse

Reisebilder

1907

Hermann Hesse lebte von 1904 bis 1912 in Gaienhofen am Bodensee. In dieser Zeit entstand eine Reihe ‹Kleiner Schriften› über seine Wahlheimat und die Landschaft Richtung Säntis.

Abfahrt

Der Untersee und unser kleines Dorf lag tief im dicken Herbstmorgennebel, als ich mit meinem Reisegefährten am flachen Ufer in den Kahn stieg. Wir ruderten dem Kompass nach rasch durch den milchig schimmernden Dunst über das dunkle, regungslose Wasser, und bald stieg mit spitzen Türmchen und langer Dächerflucht das gegenüberliegende Uferstädtchen undeutlich und verschlafen aus dem leis’ brodelnden Gewölk. Es war eine kühle Morgenstille in den sauberen Gassen, nur ein Bäckerladen hatte Licht brennen und wartete auf Zuspruch aus den behaglichen Häusern, die mit nebelfeuchten Erkern und geschlossenen Toren ohne Ungeduld den Tag erwarteten. Späte Dahlien, weisse und gelbe Buschastern blühten noch in einigen Gärten, und beim Bahnhof liessen ein paar Vogelbeerbäumchen ihre hellroten Fruchtbüschel leuchten.

Der Zug kam an und nahm uns mit, wir fuhren seelängs, doch ohne den See oder die schönen Hügel zu sehen, durch ein fremdes Nebelland und hatten nichts dagegen. Denn durch einen dichten Nebel der erwarteten Bergklarheit entgegenzureisen, ist ebenso ahnungsvoll schön und köstlich spannend, wie durch einen mächtigen Tunnel in ein fremdes Land einzufahren. Der Schaffner rief die Namen wohlbekannter Seedörfer, von denen wir nichts sahen, er rief Konstanz und Kreuzlingen und schliesslich Romanshorn und Arbon, und wären die Bahnhöfe und die einsteigenden Menschen nicht gewesen, so hätten wir vom Wechsel der Landschaft nichts bemerkt. So aber spürten wir ihn wohl.

Es ist merkwürdig: Wenn ich vom Untersee her weiter in die Ostschweiz hinein reise, habe ich stets das Gefühl, in ländlichere Gegenden zu kommen, obwohl eigentlich das Gegenteil wahr ist. Unsere Unterseedörfer sind so still wie möglich und schliesslich ist auch Konstanz keine Grossstadt, während von Arbon bis St. Gallen der Eindruck von Stadtnähe, Bahnverkehr und Industrie beständig zunimmt. Und doch erscheint es mir umgekehrt, und das liegt an den Menschen. Etwa von Romanshorn an fühlt man, dass andere Leute einsteigen, und diese Leute machen – Ausnahmen zugegeben – einen behaglichen und wohltuend phäakenhaften Eindruck. Sie steigen langsam ein, sie rufen noch auf der Treppe draussenstehenden Bekannten etwas zu und im Wagen grüssen sie und sind mit dem Schaffner oder mit den Reisenden schon im Gespräch, noch ehe sie Platz genommen haben.

So war es auch diesmal wieder. Ohne dass der Zug weniger rasch fuhr und obwohl Publikum und Land eigentlich keinen agrarischen Eindruck machten, fühlte man eine freundliche Verlangsamung des Tempos, lediglich auf Grund des Dialekts, der Gestalten, Gesichter und Gesten. Etwas Munteres und Lebensfrohes klang auf, aber ohne jede Hastigkeit. Zwischen den Rorschachern, St. Gallern und Rheintalern tauchten auch schon manche Appenzeller auf, und je mehr ihrer wurden, desto behaglicher und frohsinniger wurde es in unserem Wagen. Es dauerte nicht lange, so waren wir mit ins Gespräch gezogen und wurden über Herkunft und Reiseziel freundlich und ohne lästige Neugierde befragt. Scherze und gute Wünsche wurden uns nachgerufen, als der Zug schliesslich in St. Gallen hielt und alle auseinandergingen. Hier begannen wir uns die Weiterreise zu überlegen. Wir wollten ohne feste Route ein paar Tage schön verschlendern, und da gerade die Strassenbahn nach Trogen zur Abfahrt bereitstand, stiegen wir ein und fuhren in einem schönen, bequemen und hellen Wagen durch die Stadt und langsam bergauf.

Noch immer steckten wir tief in Nebeln, doch drang uns aus der Höhe schon wärmeres Licht und eine Ahnung von blassem Blau entgegen, und im Berganfahren erlebten wir das alte, freudige spannende Spiel, das Wogen und Verzagen der weissen Massen, das Auflachen und Versteckspielen eines blauen Stückleins Himmel, den Kampf der Sonne mit der Trübe und ihren stillen, herrlichen Sieg. Oben beim Vögelinsegg erreichten wir endgültig die klare Höhe, sahen einen glänzend blauen Mittagshimmel über herbstklare Fluren lachen und atmeten frische, durchsonnte Luft. Und nun fuhren wir rasch und fröhlich ins Appenzell hinein, durch ein reinliches und fröhliches Land mit lichten, vielfenstrigen sauberen Häusern und heiteren Menschen, bis zur Station Trogen, wo die Strassenbahn ein Ende hat und wo wir unsere Wanderschaft beginnen wollten.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 25–26.

Erstpublikation: Hermann Hesse: Reisebilder. In: Sämtliche Werke in 20 Bänden. Hrsg. von Volker Michels. Bd. 13: Betrachtungen und Berichte 1899-1926. © Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2003. S. 133–135. Alle Rechte bei und vorbehalten durch den Suhrkamp Verlag Berlin. Erstveröffentlichung in: Neues Wiener Tagblatt, 1. Januar 1907.