Literaturland


Ludwig Hohl

Bergfahrt

1975

Bergsteigen spielt in Ludwig Hohls Werk eine zentrale Rolle. Die Erzählung mit dem Titel Bergfahrt hatte Hohl 1926 begonnen, bis 1940 sechs Mal neu gefasst, dann mehr als dreissig Jahre lang liegen gelassen, ehe er ihr 1975 die gültige Fassung gab.

Erster Anstieg

Am Vormittag vollzieht sich der erste Anstieg durch den lichten Bergwald auf einem in Serpentinen angelegten Weg, über einen langen und steilen Hang, einen von Licht und Luft durchflossenen, der in Kühle noch und in erster Wärme steht zugleich. Voran geht Ull, hinterher der lange, hagere Johann, aber sie schreiten nicht auf dieselbe Art: gebückt wohl beide, der erste jedoch in etwas höherem Masse, mit geschmeidigeren, fast etwas nachlässigen Bewegungen: er ist ein guter Berggänger; der zweite dagegen hat nichts Geschmeidiges, er arbeitet mit Kraft, als ob er dem Berg harte Stösse versetzen müsse: ein schlechter Gänger.

Bald schon ist leichter Schweiss ausgebrochen; es drücken die Riemen der schweren Säcke, eine Stelle an den Schuhen, am Gürtel oder anderswo; bei dem gleichförmigen Geräusch der kratzenden Nagelschuhe, der Pickelspitze auf dem Gestein und rollenden Geschiebes, bei dem scheinbaren nicht Höherkommen, gleicht das mühselige Begehen des Wegs dem von vielen, von hundert anderen. Aus der Tiefe das Murmeln oder leise Tosen eines Bachs, bald kaum hörbar, bald vernehmlicher. Eine Stunde, zwei Stunden lang, mehr – und es scheint, der Aufstieg dauere ewig.

Aber auf einmal hat sich vieles geändert. Der Hang ist zu Ende, ist in eine Art breite Schulter übergegangen, die in rechtem Winkel zum Hang gegen die Gesamtflanke des Gebirges vorstösst, leicht ansteigend. Der spärliche Wald hat nun aufgehört; vor allem sind seine Laubbäume mehr und mehr durch Tannen ersetzt worden und diese stehen nur noch vereinzelt und von dürftiger Gestalt in Wiesen; man beginnt einzutreten in die Alpregion.

Schon haben sie tausend Meter unter sich gebracht. Eine weite Aussicht hatte sich eröffnet. Bei einer Quelle am Wege liessen sie sich nieder, einem kleinen Wässerlein, das über Felsen rann, inmitten eines breiten Rasenbandes, das der Weg querte, im Zickzack hinansteigend, dem Fuss einer grösseren und zusammenhängenden Felswand entgegen, die wenig weiter oben die Wiesenhänge ablöste. Die Wärme war nun gestiegen, Hang und Felsen strahlten eine eigentliche Hitze aus, kein Wind ging, und eine wunderbare Ruhe breitete sich über alles. Das Berggras ringsum, von herberem Grün, härter und zarter und weniger hoch als das fette Gras der Täler, lud zur Rast ein. Man blickte hinunter in den obern Teil des Seitentals, zu seinem kleinen Fluss und jenseits, wenig erhöht über ihm, einem wahrhaft träumenden Dörfchen; es sah so still, so rein aus, in so edler Friedlichkeit ruhend, wie keine Dörfer in Wirklichkeit sein können, wenn man schon Wirklichkeit jene Nähe nennen will, wo man mit einem Ding zusammen leben, es berühren kann. Und das Tönen des Baches oder kleinen Flusses – oder vielleicht noch verschiedener anderer Bäche – drang unaufhörlich, gedämpft und melodisch, aus der Tiefe herauf. Immer aber hier oben, neben den weichen, mit zarten Blumen geschmückten Rasenpolstern, die schönen, ewig ruhenden Felsen, die einen in bläulichen, schwärzlichen Schatten, die andern glitzernd, bebend fast unter der Gewalt der Mittagssonne, zitterndes Licht sendend.

«Wir haben Zeit genug; wir können hier eine oder zwei Stunden bleiben, wenn es uns gefällt.» Ull hatte seinen Rucksack geöffnet, zog einiges hervor. Johann hatte den Sack ebenfalls abgelegt, sass daneben und rührte sich nicht. Ull reichte ihm einen Becher des klaren Wassers, den er sofort leerte und zurückgab, und wieder rührte er sich nicht. «Willst du nichts zu dir nehmen?»

«Ich esse halt dann, wenn wir droben sind.»

«Wo droben? Was, zum Teufel, willst du damit sagen? Vielleicht in der Hütte – vielleicht morgen auf einem Gipfel?»

Ein Zucken mit der Schulter anstelle einer Antwort.

«Du weisst, dass für einen Bergsteiger viel davon abhängt, dass er sich nährt, und zwar von Anfang an.»
Er wollte noch hinzufügen: «Wenn du jetzt schon nichts issest, wirst du nicht durchhalten», behielt das aber für sich.

Es ist jedoch zu bemerken, dass Johann in seinem allgemeinen Leben ein starker Esser war trotz seiner Hagerkeit. In Paris in einem kleinen Restaurant bestellte er nicht selten zwei Menus auf einmal mit nur einem Gedeck; kaufte er sich am Nachmittag dreihundert Gramm Käse, den er in etwa zwanzig Würfel zerschnitt und im Nu vertilgte mit einer entsprechenden Menge Brot dazu. So hatte er am Vortage, als sie sich im Marktflecken verproviantierten, seine Augen auf Büchsen gerichtet, die ein Kilo Rindfleisch enthielten, und Ull riet ihm ab davon (weil solche Büchsen niemals in einem Mal aufzuessen und auch nicht aufzubewahren seien, also eine unnötige Belastung darstellten); nachher zeigte sich, dass er doch drei dieser Büchsen mitgeschmuggelt hatte. Wenn Johann einen Anfall von Melancholie hatte, was oft geschah, so pflegte dies keineswegs seine Fresslust zu vermindern, im Gegenteil. Und eben deshalb war Ull nun beunruhigt. Er versuchte es mit nochmaligem Zureden. Und wieder war die Antwort:

«Halt wenn wir oben sind.»

Dabei machte er eine hilflose Bewegung mit der Hand gegen das unermessliche, unüberblickbare Getürme der Bergflanke.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 298–299.

Erstpublikation: Ludwig Hohl: Bergfahrt. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1975. S. 10–13. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.