Literaturland
Ludwig Hohl
Von den hereinbrechenden Rändern
Wenn für irgend etwas, so gilt für sie, die Gesetze der besonderen, der subtilen, der scheinbar nebensächlichen (und von unserem Alltag aus gesehen wirklich nebensächlichen) Erscheinungen, das Wort: «Die Letzten werden die Ersten sein.»
Breit liegt unser Mittag um uns, die mittägliche Stadt in Schwere und Ausdehnung; am fernsten Rande der Himmel, als fast unnennbare Nuance, sitzt ein Wölkchen, man kann sagen, unwirklich; nur ‹Träumer› erspähen es: von dort her aber bricht es, das die jetzige breite Stunde ablösen wird, von dort her wird es brechen, das in kurzem stadtbeherrschende Gewitter. Es kommt, es wird nahen, es zerschmettert die Mitte.
Das menschliche Denken schreitet nicht so vor – und das nach und nach trotz aller Vergeudung dennoch ihm folgende menschliche Dasein schreitet nicht so vor –, dass aus dem heutigen Dicken, Breiten und Grossen, aus dem bewussten Allgemeinbesitz und aus dem, was anerkannt wird durch den ‹gesunden Menschenverstand› (womit etwas bezeichnet wird, das weder menschlich noch gesund noch verstehend ist), das Folgende käme, o nein! Die Mitte hat keine Kraft, sich zu erneuern, Herr Meier wird keine Kinder haben (was er freilich auch nicht nötig hat, da er selbst unsterblich ist, er, der ewige Hemmschuh; vor zweitausend Jahren war er schon so alt wie jetzt; er, dessen Funktion sich darauf beschränkt, die deutlichste Illustration zu sein jenes im menschlichen Bereich gewaltigen Gesetzes von der Vergeudung; er, das Fleisch und nicht der Sinn; Düsenflugzeuge – geschaffen durch Träumer, von denen der ärgste Leonardo war – sausen über seinen Kopf dahin und er merkt es nicht; beschäftigt mit seiner Lieblingsidee, dass, wie es immer war, so es sein soll: nie wird zum Beispiel die Menschheit eine Organisation zustande bringen, die die Möglichkeit des Krieges zwischen Nationen aufhebt: wir wissen das aus der Geschichte und brauchen nicht zu achten auf Träumer wie Kant und Napoleon und Einstein; der Mensch hat ja auch keinen Staat geschaffen, sondern wir leben noch wie die Horden von Neuguinea; und er fliegt nicht, da er dreitausend Jahre lang jedesmal herunterfiel; – er wird keine Kinder haben, braucht sie auch nicht, da er selbst unsterblich ist, Herr Meier, das ewige Loch und der breiige Abgrund). – Die Mitte hat keine Kraft, sich zu erneuern; das menschliche Entdecken schreitet nicht so vor, dass man vom Allgemeinen, dem von allen Gesehenen, ‹Wichtigen› aus endlich zu den Randbereichen, den Nuancen gelangte, wo dann allmählich Verblassen und Auslöschen einträte; sondern umgekehrt: zuerst wird ein Neues gesehen in den Randbezirken, an den zerfasernden Orten der Nebenerscheinungen (einem niedlichen Dingelchen etwa, wie das Meer sie anschwemmt, kaum zu etwas gut, als dass die Kindlein damit spielen, Bernstein, von den Griechen Elektron genannt), des Subtilen, der unmerklichen Spannungen, des fast Unsichtbaren …, dort, wo der allgemeinen Meinung nach nur die ‹unpraktischen› und nebenhinausgeratenen Fachleute (wie z. B. Thales, als er sich mit der erwähnten farbigen Versteinerung abgab) sich beschäftigen können. Und dann … langsamer oder rascher, oft unmerklich und bisweilen auch in einem gewaltigen Ruck, schieben sich diese Nuancen-Entdeckungen in den Tag hinein, mehr und mehr der Mitte zu, beherrschen endlich die Welt.
Wäre ich verlegen um Beispiele? Verlegenheit kann hier höchstens daraus entstehen, dass der Beispiele zu viele sich herandrängen. Was war einst und was ist heute die schon erwähnte Angelegenheit der Elektrizität? Werden die Entdeckungen eines Planck, eines Einstein die Welt mehr verändert haben oder hundert Akademien und Landsgemeinden? Und der grosse Traum des Leonardo! (Man weiss, wie die Zeitgenossen sich über ihn äusserten: «Er ist ein guter Maler. Was er sonst im Dunkeln noch treiben mag –». Lächelnd, den Finger an der Stirn: «Er bildet sich ein, dass der Mensch sich in die Lüfte erheben könne! – Aber er ist ein grosser Künstler.»)
Wir gelangen nicht vom Allgemeinen zum Speziellen (abgesehen von untergeordneten Abschnitten), sondern (im Gesamten der Entwicklung) vom Speziellsten zum Allgemeinsten. Nicht vom Zentrum aus geschieht die Entwicklung, die Ränder brechen herein. «Seht, da kommt der Träumer her.» Morgen beherrscht er das Land. «Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist gesetzt worden zum Eckstein.»
Brot ist wichtig. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Die Fragestellung ist unvollständig: Das alte Brot wird ihm entzogen und er schafft neues.
Hätte man dieses Gesetz von den hereinbrechenden Rändern nicht immer sehen können, wenn man nur hätte beobachten wollen? – Die Sprache aber ist klüger: sie wagt es, wo es um Gebilde des Geistes, der Kunst sich handelt, von Schöpfung zu reden. Wo war dieses Wort sonst verwendet worden (an die Allüren heutiger Schneider, Haar- oder Tuchschneider, wird niemand denken wollen, sie haben mit Sprache nichts zu tun) als in der Geschichte von dem Anfang der Welt?
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 487–488.
Erstpublikation: Ludwig Hohl: Von den hereinbrechenden Rändern. Hier publizierte Fassung in: Dass fast alles anders ist. Olten: Walter-Verlag, 1967. S. 74–77.