Literaturland


Eduard Imhof

Eine ungemütliche Panoramarevision

1977

Liest man den Text über die Panoramarevision des Kartografen Eduard Imhof nach jenem des Geologen und Luftforschers Albert Heim, so entsteht ein faszinierendes Epochenfernrohr. Professoraler Blick in die Vorschwebebahnzeit.

An einem Oktobernachmittag des Jahres 1927 nahm ich von Urnäsch aus den Weg zum Säntis unter die Füsse. Die Schwebebahn bestand damals noch nicht. Zweck meines Unternehmens: Zum achtzigsten Geburtstag des Geologen Albert Heim, des berühmten «alten Heim», plante der Schweizer Alpen-Club eine Herausgabe eines Jugendwerkes des Jubilars, des grossartigen Säntispanoramas aus dem Jahre 1871. Im Auftrage dieses Clubs sollte ich nun den etwa 430 cm langen Bildstreifen revidieren, darin, wenn nötig, Berge versetzen, Gipfelnamen kontrollieren und sie den Zungen moderner Sprachreiniger schmackhaft machen, die Höhenangaben den Ergebnissen neuester Landesvermessungen anpassen und Heims feingliedrige Zeichnung durch zusammenfassende Töne übersichtlicher gestalten. Die Wettermacher zu Zürich hatten für die kommenden Tage das Herannahen eines kräftigen Hochs prophezeit. Eine solch günstige Situation für meine Arbeit, wohl die letzte Möglichkeit vor Einbruch des Winters, musste genutzt werden.
So schritt ich denn frohen Mutes bergan, schenkte aber, jung und leichtsinnig, der Ungunst der vorgerückten Jahres- und Tageszeit keine weitere Beachtung. […] Ich befand mich übrigens in guter Gesellschaft meines treuesten Freundes, des Eispickels.

Oberhalb der Schwägalp führte der schmale Pfad steil, aber leicht und rasch hinauf durch die ‹Musfallen›. Dann aber, höher oben ‹in den Schnüren›, begann das Grausen. Die Wegspur auf abschüssigen, schmalen Rasenbändern über jähen Felsstufen verlor sich unter Steilflächen trügerischen Neuschnees. Schritt für Schritt, mit grösster Vorsicht, stapfte ich vorwärts. Es war bereits Nacht, als ich das ersehnte Tierwies Gasthaus erreichte. Hier aber wartete mir eine schwere Enttäuschung. Keine Türe, kein Fenster wollte sich öffnen. Ich trommelte mit meinem Pickelstock eine Höllensymphonie auf die Fensterläden. Alles vergeblich! Kein Lichtschimmer brachte Hoffnung. Alles blieb dunkel, verschlossen, verlassen! Freilich, solches hätte ich ja schon unten in Urnäsch erfahren können. So war ich genötigt, mich durchzukämpfen, hinauf zum Gipfel, zum Hause des Wetterwartes. Ich stapfte weiter durch die Finsternis. Starkes Schneetreiben hatte jede Spur des Weges völlig verwischt. Als Blinder folgte ich meiner eiskalten Nasenspitze, höher und höher in eine unsichtbare, unbekannte Einöde verschneiter Karren. Um ein Uhr in der Nacht steckte ich irgendwo im hintersten Felsenkessel unter dem Girenspitz, offenbar nicht mehr weit entfernt vom Einstieg zu der luftigen Felsentreppe, die hier zur Sommerszeit leicht zum Säntisgipfel hinaufführt. Wo und wie aber finde ich diesen Einstieg? Der Säntis ist jetzt nicht mehr der freundliebe Damenberg sommerlicher Familienwanderungen. Er hat sich verwandelt in einen grimmigen, schlechtgelaunten Himalajariesen. Wo überhaupt ist der Berg? Wo und wie komme ich wieder heraus aus dem sturmdurchtobten, nebelverhüllten nächtlichen Schnee- und Felsenkessel? Jetzt geht es auf Leben oder Tod. Es bleibt keine andere Wahl als ein Fluchtversuch zurück. Ich wühle mich durch metertiefen Neuschnee und perfide, versteckte Karrenlöcher abwärts, immer nur abwärts. Längst ist meine Aufstiegsspur vom Sturm verwischt. Bei einem Sturz in ein schneeverhülltes Karrenloch brechen zwar nicht meine Beine, wohl aber die Gläser meiner Touristenlaterne. Durch völlige Finsternis tappe ich weiter. Von Zeit zu Zeit krieche ich hinab in ein Karrenloch, wo windgeschützt, ein sekundenkurzes Aufflackern einer Streichholzflamme mir einen Blick auf Landkarte und Bussole ermöglicht.

Um vier Uhr morgens stehe ich wieder vor der verschlossenen Türe des Tierwies-Gasthauses. Acht Stunden sind es her, seit ich hier vorbeigekommen war. In letzter Verzweiflung hämmere ich wiederum an Türe und Fensterladen. Ich hämmere mir meine Fäuste wund. Und siehe da: Nach längerer Belagerung ward Licht. Die Haustüre knarrt. Zwei Arbeiter befanden sich im Hause. Spät am gestrigen Abend, erst nach meinem erstmaligen «Vorbeimarsch», waren sie von Unterwasser her hier eingetroffen, in der Absicht, an den folgenden Tagen Reparaturen vorzunehmen. Staunend, aber mit grosser Freundlichkeit führten sie den nächtlichen Schneemann in die warme Stube. Ich war gerettet.
Als ich am folgenden Vormittag vor die Haustüre trat, strahlte über dem Gebirge ein tiefblauer Himmel. Alles Gewölk war weggefegt. Ringsum glitzerte und funkelte eine verzauberte Welt. Ich stampfte nun mit neuem Mute, wenn auch nicht ohne Mühe, durch tiefen Neuschnee dem Gipfel zu. Meine nächtliche Abstiegsspur war bereits wieder völlig verwischt. An der Felsentreppe unter dem Gipfel war das Drahtseil auf seiner ganzen Länge von einem Eismantel umhüllt.
«Warum haben Sie gestern Nachmittag von Urnäsch aus nicht telefoniert und mir Ihr Kommen gemeldet? lch wäre Ihnen in der Nacht vom Gipfel her entgegengekommen, um Ihnen zu helfen!» So knurrte bei meiner Ankunft im Gipfel-Observatorium der wetterharte Wetterwart.
Es folgten herrliche Tage im Anblick der grossartigsten Gebirgsrundschau. Bei winterklarer Sicht inspizierte ich nun durch das Fernrohr alle die tausend Zacken und Zäcklein eines unermesslichen Horizontes, und ich tastete mit nadelscharfem Bleistift Albert Heims Bildstreifen ab. Zu flicken gab es nicht viel. Die Berge standen immer noch dort, wo sie der liebe Gott und der junge Panoramakünstler einst hingestellt hatten. Albert Heims Zeichnung erwies sich als ein Wunderwerk an Genauigkeit und Inhaltsreichtum. Er hatte sein Panorama seinerzeit selber in Stein gestochen, dabei aber mit seiner Nadel da und dort allzuspitz herumgestochert. Es galt nun, das verwirrend feinmaschige, dünnstrichelige Linien- und Strichgewebe etwas zusammenzufassen und durch gruppierende und distanzierende Grautöne in eine übersichtlichere, bildhaftere Form zu bringen.

Die stillen Abende in warmer Stube hinter dem Ofen verplauderte ich mit meinem freundlichen Gastgeber, dem trefflichen Wetterwart. Mit Wehmut erzählte er mir von seinem Vorgänger, der vor Jahren hier oben, im winterlichen Observatorium, einer ruchlosen Mörderhand zum Opfer gefallen war. Lieblicher aber als solche Berichte erklang eine Neuigkeit aus weiter Ferne; denn erstmals in meinem Leben vernahm ich hier oben durch den Äther eine Radiostimme: Aus Wien flötete eine Sängerin mir durch meinen Kopfhörer in die Ohren «Liebet euch, liebet euch; denn Gott schuf die Liebe für euch!»


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 313–315.

Erstpublikation: Eduard Imhof: Eine ungemütliche Panoramarevision. In: Zur neunten Auflage des Heimschen Säntispanoramas. Hrsg. vom Vorstand der Sektion St. Gallen des Schweizer Alpen-Clubs. St. Gallen, 1976. Unpag.