Literaturland


Johann Inauen

«Hilfe, ich verdurste!»

2010

Der Abhang ist steil und abschüssig. Wir durchqueren nacheinander ‹überhängende› Grasborde, Felsstufen und Chenner. Seilsicherung und vor allem der Steinschlaghelm sind unabdinglich. Erst hören wir das jämmerliche Meckern der ‹Patientin›, dann sehen wir sie. Sie kann weder vor noch zurück und droht jeden Moment abzustürzen. Seit gestern befindet sie sich in dieser misslichen Lage und wartet auf Hilfe. Bestimmt plagen sie Verletzungen, aber auch Hunger und vor allem Durst. In der Nähe der Patientin angekommen, kostet es mich und meine Begleiter Sepp Dörig und Dani Rechsteiner einige Überwindung, sie mit Reepschnüren zu sichern und nach ihren Verletzungen zu schauen. Sie riecht – gelinde gesagt – nicht ganz gut, ist total verschwitzt und dreckig. Dani überwindet sich und hält ihr seinen Trinkbecher hin, sie schaut ihn treuherzig an. Rasch sind wir uns einig. Nur eine Bergung talwärts ist zweckmässig. Sepp und Dani knüpfen ihr mit Bandschlingen und Reepschnüren ein Gstältli. Sie verstehen ihr Handwerk – ich bekomme auf eindrückliche Art vor Augen geführt, wie man geschickt und zweckmässig improvisiert.

Dann geht die Talfahrt auch schon los. Sepp wird zusammen mit der Patientin hinuntergelassen, Dani und ich bedienen den Standplatz. «Etwas langsamer», verlangt Sepp, «ich bin jetzt in einem Überhang», und meldet kurz darauf, er sei auf dem Boden angelangt. Dani folgt nach, seilt sich selber ab. lch räume den Standplatz ab. Was sehe ich! Offenen Mundes staune ich: Sepp hat die Patientin quer auf seine Schultern genommen und trägt sie in Richtung Kleinhütten das Bord hinunter. Nie hätte ich Sepp so viel Kraft und auch Zimperlichkeit zugetraut. Als ich endlich eintreffe, sitzen Dani und Sepp schon bei einem Glas frischer Milch und einem Stück fein duftendem Käse. Ich strecke meinen beiden Helfern die Hand entgegen: «Gratulation! Ihr habt euch das Geissenrettungsbrevet mit Bravour verdient.» Beide strahlen. Diesen ungewöhnlichen Rettungseinsatz werden wir so schnell nicht vergessen. lm Stall nebenan verarztet der ‹Gschneet-Hans› seine verunfallte Geiss und versorgt sie mit einer Extraportion feinem Bergheu und frischem Quellwasser.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 318.

Erstpublikation: Johann Inauen: Bergung aus schwierigem Gelände, oder: «Hilfe, ich verdurste!» In: 100 Jahre Rettungskolonne Appenzell. Festschrift. Appenzell: Appenzeller Volksfreund, 2010. S. 99.