Literaturland
Roland Inauen
Heuen war …
Die im Sammelband Charesalb ond Chlausebickli zusammengezogenen Kolumnen des Volkskundlers und Landammanns Roland Inauen erschienen in der Appenzeller Zeitung (ab 1998) und dem Appenzeller Magazin (ab 2006). Sie erzählen von der Bubenzeit in Appenzell Innerrhoden während der 1950er und 1960er Jahre.
Heuen war …
• von einem Tag auf den andern Ferien. Wir gingen nicht, wir rannten heim. Endlich begann das richtige Leben – zumindest für gut zehn Wochen.
• zu Beginn blutunterlaufene Blootere (1) an den Händen – immer an denselben Stellen. Melkfett half auch nicht, aber hie und da ein Sugus (2).
• nach und nach dicke, zähe Fusssohlen und zwischen den Zehen Stompelöcher (3), die sauweh tun konnten. Am Abend Füssewaschen in Schmierseifenwasser. Aber sie wurden nicht sauber. Nie.
• die Hände voller Charesalb (4), weil beim Rabit (5) die Zapfenwelle klemmte.
• eine eigene Heugabel mit einem Stiel, den hundert Kinderhände vor mir blank geschliffen hatten.
• auf einem Bein stehen und am Gabelstiel sugle (6). Die Grossen hatten schliesslich ihre Backpfeife.
• zum Vesperessen im Schatten eines Ahorns lauwarmen Milchkaffee aus
braunroten Bierflaschen mit Bügelverschlüssen trinken, die in Zeitungen eingewickelt waren und in einer schwarzen, schmalen Ledertasche lagen, die nach saurem Most und Leder roch – und nach Milchkaffee mit Frank Aroma (7).
• s Meescht neh (8). Auch das musste gelernt sein, denn es war gar nicht einfach, Heu oder Emd in beide Hände zu nehmen, ohne es überall zu vezattle. Dazu waren alle Muskeln der kleinen Hände und Unterarme gefordert. Ein Dichter müsste her, um diese elementare Tätigkeit genau zu beschreiben. Kein Halm ging verloren.
• zweifarbige Arme: unten schwarz und etwa ab der Mitte des Oberarms weiss.
• woobe, wende, je nach dem: öbereschöttle, medle ond zette, iireche, wider medle, schoche oder huenze, Medli cheere, Medli zette, Schoche oder Huenze vetue (aber erst wenn der Boden trocken war), wider wende, zemetue, reche, Ääfl mache, aalegge, d Bodi bönde, d Bodi aabzüche, reche, iiträge, d Bodi vetue, staampfe. (9) Und das war noch lange nicht alles.
• der immer selbe Spruch unseres Onkels, wenn unsere Kräfte nachliessen: de Reche fescht häbe ond wädli laufe. (10)
• der Bumeranzeschölferesirup (11) unserer Grossmutter – denn Durst hatten wir immer – und hie und da ein Sugus.
• d Heuläätere (12) uuf. Es gab zwei Sorten von Heuläätere-Sprotze (13): runde und flach-eckige. Die runden, rauen Sprossen passten so schön in die Fusshöhlen hinein und lösten im ganzen Körper einen Höhenrausch und die Vorfreude auf den Heustock aus.
• das explosionsartige Geräusch beim ruckartigen Lösen des Heuseil-Schlicks (14). Im nächsten Augenblick war der Knall vom Heu verschluckt und die Bodi (15) fiel fast lautlos auseinander.
• das bange Chlöckle am Glaas (16) (wenn’s abi ging, hätten wir am liebsten die Faust draufgehauen).
• die dunkelgrünen schwimmenden Mostflaschen der Grossen im Brunnentrog – und ein paar Heublumen dazu.
• vor lauter Müedi (17) das Putzen der Suguszähne vergessen.
1 Blootere Blasen
2 Sugus (Markenname) Fruchtcaramel
3 Stompelöcher kleine Wunden an den Fusssohlen
4 Charesalb Schmierfett
5 Rabit Rapid (Markenname), Einachser, Vielzweckmaschine
6 sugle saugen
7 Frank Aroma (Markenname) Kaffeeersatz
8 s Meescht neh von Hand kleine Heumaden, die durch das Rechen entstehen, zusammennehmen
9 Tätigkeiten beim Heuen und Heu eintragen
10 de Reche fescht häbe ond wädli laufe den Rechen fest halten und schnell laufen
11 Bumeranzeschölferesirup Orangenschalensirup
12 Heuläätere Heuleiter
13 Sprotze Sprossen
14 Schlick Knoten
15 Bodi Burde
16 Chlöckle am Glaas leichtes Klopfen am Barometer
17 Müedi Müdigkeit
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 244–245.
Erstpublikation: Roland Inauen: Charesalb ond Chlausebickli. Erinnerungen an eine Bubenzeit in Appenzell Innerrhoden. Mit sechs Schwarz-Weiss-Fotografien von Herbert Maeder. St. Gallen: VGS Verlagsgemeinschaft, 2010 (Edition Ostschweiz 11). S. 32–33.