Literaturland


Matto Kämpf

Wie es mir im Appenzell erging

2014

Immanuel Traugott Theophil Kämpf, der Urgrossvater des Autors, reist durch die Schweiz und fabuliert. Er erreicht das Appenzellerland.

Ich schlug den Weg gegen Süden ein. Beim Einbruch der Dämmerung legte ich mich auf eine Wiese und trank ein paar Tropfen Gletschermilch. Darauf sank ich in tiefen Schlaf. Als ich die Augen wieder öffnete, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Ich hörte piepsende Stimmen. Ich drehte den Kopf und sah Zwerge. Sie waren kaum so gross wie ein Finger und hüpften aufgeregt um mich herum. Die Zwerge hatten mich mit Seilen an den Boden gefesselt. Sie schrien auf, als ich mich vergeblich aufzurichten versuchte. Die Zwerge waren seltsam gekleidet. Sie trugen gelbe Hosen, weisse Strümpfe und rote Westen. Auf ihren Zwergenköpfen hatten sie flache schwarze Hüte. Nun trat ihr Anführer hervor. Er hiess Rondom und bezeichnete mich als bösen Zauberer. Ich sei in schlechter Absicht in ihr Zwergenland gekommen, welches Sönd Wöllkomm hiess. Sie hätten beobachtet, wie ich vor dem Einschlafen ein verhextes Elixier getrunken habe. Daraufhin hätte ich derart laut geschnarcht, dass es den Schauderbaren Fladenbiber von Hundwil schier aus dessen unendlichem Schlaf gerissen habe. Rondom forderte die Zwerge auf, sich zu versammeln und ihre Hände in die Hosentaschen zu stecken. Sie berieten sich und kamen überein, mein Elixier im Lodernden Feuer von Schwellbrunn zu vernichten. Ich musste lachen, was ich auch tat. Ich sagte, da liege ein Irrtum vor. «Schweig, du Zauberflegel», schrie Rondom. Es fanden sich schliesslich einundzwanzig Gefährten, die das Wagnis eingehen wollten, mir mein Fläschchen zu rauben. Sie hiessen Oonack, Gröz, Tösöll, Fenz, Gföll, Vöörig, Ooflood, Holöck, Schwäädlig, Läädliich, Ooleiig, Gotzli, Noodlig, Vööteler, Föchelig, Ääpfoch, Oogföll, Wölzgott, Töbeli, Fidibus und Bläss. Sie begannen ihren Aufstieg hinter meinem Kopf und kletterten an meinen Haaren empor. Sie trippelten vorsichtig über meine Stirn und meine Wangen und rutschten dann vom Kinn den Hals hinunter. Ich musste dafür sorgen, dass sie nicht an meine Gletschermilch herankamen. Ich versuchte mich zu drehen, doch die Zwerge hatten mich gut vertäut. Zum Glück gelangte ich mit meiner Hand an Pirmins Kruzifix in der Hosentasche. Mit der Dornenkrone Jesu konnte ich ein Seil durchwetzen und mich befreien. Die einundzwanzig Gefährten standen entsetzt auf meinem Bauch und sprangen ins Gras. Alle Zwerge machten sich aus dem Staub und ich zog weiter Richtung Süden.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 424.

Erstpublikation: Matto Kämpf: Kanton Afrika. Eine Erbauungsschrift. Luzern: Der gesunde Menschenversand, 2014. S. 62–63.