Literaturland


David Keller

Der erzwungene Schlaf

2009

Sein Kopf liegt auf der Tischplatte. Das harte und kalte Holz presst sich an seinen harten und kalten Schädel. Und dazwischen liegen seine Gedanken, in diesem unmöglich kleinen Raum zwischen zwei Kälten, zwei Härten. Doch gleichzeitig machen sich einzelne Geistesmoleküle frei und sausen weg in das irgendwie Umgebende, als ob sich seine Welt in diese Reibung zwischen Holz und Schädel zusammengezogen hätte. Er weiss, dass zu gehen richtig gewesen ist. All die Gespräche, die unnützen Wörter, die wie Papierflieger von aufgesetzt lächelnden Mündern zu anderen hin- und hergeflogen sind. Er hat es nicht ertragen. Ihm blieben die Flieger in der Kehle stecken und knüllten sich dort zu kleinen Bällchen zusammen, die ihn beinahe erstickt hätten. Es ist ihm nicht ganz gegenwärtig, wie lange er schliesslich geblieben ist. Zwanzig Minuten oder etwas mehr … vielleicht eine halbe Stunde. Und es hat ihn Überwindung gekostet, die Muskeln seiner Beine in Bewegung zu setzen und zu gehen, denn es ist ihm jetzt, zwischen harter Materie eingeklemmt, bewusst, dass man eigentlich so etwas nicht machen darf. Und als er auf dem Weg nach draussen auch noch Paul getroffen und sich dieser bekannte Unbekannte nach seinem Befinden erkundigt hat, obwohl es ihn doch kaum interessiert haben dürfte, da wurde das Papier in seinem Hals zu einem Klumpen, den er mit seinem Speichel nicht mehr aufzuweichen vermochte. Also ist er gegangen, ohne ein Wort zu sagen. Ohne Erklärung. Doch hier und jetzt, zwischen Tisch und Schädel, steigert sich seine Erinnerung zur Vision eines hysterisch gewordenen Menschen, unfähig zu funktionieren.

Sein Bewusstsein schwindet für einen Moment. Verliert sich. Kommt wieder zurück, indem sich die beiden harten Platten langsam aneinander aufwärmen. Es ist eine unangenehme Stellung. Lustlos versucht er etwas Schönes, bevor er aufsteht und die Augenlider für die zu weit geöffneten Pupillen, schützend gegen die Halogenlampe an der Decke, zusammenpresst. Nachdem das Licht wieder ins richtige Mass gerückt ist, läuft er ans andere Ende des Raums. Er betrachtet seine Habseligkeiten und ein paar Bücher über Computer, Internet, Cyberzukunft. Langsam schlendert er ins Wohnzimmer und ans Fenster, sieht unten einen Menschen lächelnd vorübergehen und denkt an Programmierfehler. Er weiss nicht so recht, was er mit sich anfangen soll, und steht daher einen Moment lang herum, während sich seine Gedanken wieder in den rätselhaften Schädelinnenraum zurückziehen. Er hört die Fragen von vorhin: Wie es ihm denn so ginge, was er so mache, wo er denn wohne. Und selbst jetzt sperrt sich seine Zunge, eine Antwort zu formen. Er legt sich aufs Sofa, ein altes Ledersofa, das er vor einigen Jahren beim Auszug von seinen Eltern mitnehmen konnte. Es bietet Platz für zwei Personen, was bis anhin nicht nötig war, und zum Liegen ist es eigentlich zu klein. Das hat ihn aber noch nie gestört, und so macht er sich’s gemütlich und schaut an die Decke, wo er immer wieder neue Linien im graupeligen Verputz ausmachen kann. Für ein paar Augenblicke vergisst er sich.

Eine gänzlich unangenehme Wärme steigt in seinen Kopf, als er wieder an Paul denken muss, und er wünscht sich die Kälte der Tischplatte an seinen Schädel zurück. Ruckartig erhebt er sich vom Sofa, weiss, dass er dies alles locker nehmen sollte. Daher stellt er sich vor den Spiegel im Badezimmer und schneidet Grimassen: einen Affen, einen Elefanten, eine Kuh, eine Giraffe. Aber trotz all dieser Versuche will sein Zwerchfell nicht ins Schütteln kommen, und das Lachen bleibt genauso irgendwo stecken wie vorher die Wörter an der Party bei Paul. Also wieder aufs Sofa. Leer atmet er aus und ein und erwartet ein Echo von den kahlen Wänden. Doch nichts geschieht, alles bleibt still und die Gegenstände stumm.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 414–415.

Erstpublikation: David Keller: Schlafstörungen. Eine Flickendecke. Berlin: Verlag Pro Business, 2009. S. 19–21.