Literaturland


Hans Peter Klauser

Das Leben auf der Alp

1945

Der in Herisau aufgewachsene Verfasser arbeitete ab 1939 als Fotograf, Fotoreporter und Werkfotograf. In seinem ersten Bildband Das Appenzellerland verfolgte er das Ziel «einer möglichst unmittelbaren Darstellung dessen, was vom Volkserbe der Appenzeller noch lebendig ist».

Röbi Diem, Urnäsch 1943

 

Am frühen Morgen schon ist der Kalthüttensenn am Käsen. Während unter dem mit Milch halb gefüllten kupfernen Kessel das Feuer schon brennt, ist er im halbdunklen Milchkeller noch mit dem Abrahmen der über Nacht gestandenen Milch beschäftigt. Mit der flachen, kreisrunden Rahmkelle, der ‹Schueffe›, fährt er behutsam unter die Rahmschicht und sammelt den Ertrag im ‹Rommeemmer›. Mit der Milch aus den entrahmten Näpfen vermehrt er rasch den Inhalt des Käskessis. Nachdem er immer wieder mit dem Ellbogen die Wärme der Milch geprüft hat, entnimmt er einer Büchse mit einem winzigen Masslöffelchen, kaum so gross wie ein Fingerhut, das Lab, ein weisses Pulver, das aus dem Magen von Kälbern hergestellt ist. Die kleine Menge rührt er nun in die hundertzwanzig Liter Milch, die in kurzer Zeit zu einer gallertigen Masse gerinnt und vom Sennen mit der Schueffe, nachdem er den Kessel an seinem Galgen vom Feuer weggedreht hat, sorgfältig gewendet und zerteilt wird. Er bringt das Kessi nun wieder über das Feuer und zerkleinert, während der Inhalt sich weiter erwärmt, die noch ziemlich groben Teile mit der Hand, indem er sie mit den Fingern zerdrückt, mit dem Arm meist bis über den Ellbogen in der brockigen Masse. Nachdem die ganze Menge so gleichmässig durchgearbeitet ist, rührt er sie kräftig um mit dem ‹Chäsrüerer›, einem kleinen entrindeten Tännchen. Die weissen Käseteilchen sind nun nur noch brosamen- bis erbsengross, haben sich deutlich von der leicht grünlichen Flüssigkeit geschieden und sinken langsam in ihr unter. Neben den überraschenden Vorgängen fesselt mich immer wieder das Bild des ruhig arbeitenden Sennen. Schon oft habe ich Menschen in ihrer Arbeit, die unbewusste Schönheit ihrer Stellungen und Bewegungen bewundert. Dieser junge, barfüssige Käser am Kessi, beleuchtet von den Flammen des offenen Feuers, erinnert mich in seiner edlen Einfalt an Bilder auf antiken Münzen oder Gemmen. Nun verstärkt er das Feuer, so dass die Flammen hoch aufschlagen; die grünliche Flüssigkeit, in der man die Käseteilchen nicht mehr sieht, beginnt zu dampfen, und nun fährt er wieder mit beiden Armen hinein. Sein gesammelter Gesichtsausdruck sagt mir, dass es um eine entscheidende Handlung geht. Unsichtbar arbeitet er in der Tiefe, wie wenn er den entstehenden Käse immer wieder umarmen würde. Stumm ist er bei dieser Arbeit und nur aus dem Kessi kommen merkwürdige, leise knirschende Töne, vermischt mit lauteren, die vom Reiben an der Kesselwand rühren. Auf dem Gesicht des Sennen verfolge ich den Fortschritt der unsichtbaren Handlung. Nun entspannt sich sein Ausdruck und geht über in den leisen Triumph: «Der Käse ist beisammen!», scheint er zu bedeuten, und schon enthebt der zufriedene Senn der trüben Flut auf beiden Händen einen hellschimmernden Klumpen, aus dem noch das Wasser tropft: den neugeborenen Käse.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 246–247.

Erstpublikation: Hans Peter Klauser: Das Appenzellerland. Basel: Urs Graf Verlag, 1945 (Das Volkserbe der Schweiz 5). S. 30–32, Abb. S. 39. © Fotostiftung Schweiz, Winterthur.