Literaturland
Ulrich Knellwolf
Klassentreffen
Vor der Post wartete Frischknecht auf den gelben Autobus. Er kannte die Strecke genau. Auf der Anhöhe hinter Heiden über die Kreuzung – rechts nach Rehetobel, links nach Oberegg –, weiter geradeaus durch das Dorf Wald mit der Kirche. Von dort aus konnte man Trogen auf der Hügelkuppe gegenüber liegen sehen. In engen Kurven ging es ins Tobel hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf.
Frischknecht stieg am Dorfplatz aus. Vor der Kirche und zwischen den vornehmen Häusern der alten Trogener Handelsfamilien wird jedes zweite Jahr die Landsgemeinde des Kantons Appenzell Ausserrhoden abgehalten. Rechts neben der Kirche steht das niedrigste Haus am Platz, das Gasthaus zur Krone. Mit seiner auffälligen Fassadenmalerei versucht es, sich gegen die Übermacht von Kirche und Bürgerhäusern zu behaupten.
Er setzte sich an einen der eisernen Tische vor dem Gasthaus. Zum Platz hin waren sie durch Sträucher in Kübeln geschützt. Es war kurz vor halb zwölf. Um zwölf Uhr waren sie verabredet. Der Kellner begrüsste ihn. Sie kannten sich. Frischknecht bestellte einen Kaffee. Er trank und wartete. Sein kahler Schädel glänzte in der Sonne.
Den weitesten Weg hätte Theophil Kellerhals gehabt. Schon von Bern nach Trogen zu fahren ist keine Kleinigkeit, wenn man über achtzig ist, aber Kellerhals wohnte nicht einmal in Bern, sondern in der Altersresidenz einer wohlhabenden Berner Vorortgemeinde.
Als einziger Sohn von Missionaren aus dem Emmental in Kanton in China geboren, war er in die Schweiz zur Schule geschickt worden. Wegen seiner schwachen Konstitution hatte er nicht, wie für Missionarskinder damals üblich, die Mittelschule in Basel, sondern im voralpinen Trogen besucht. Nach der Matura hatte er in Basel bei dem von den Nazis aus Deutschland vertriebenen Karl Barth Theologie studiert und dann eine kleine Gemeinde auf dem Land übernommen. Wenig später war er Heimatsekretär einer Missionsgesellschaft geworden, über dreissig Jahre lang, bis zu seiner Pensionierung.
In Trogen war Kellerhals mit Lukas Rothpletz eng befreundet gewesen, und, hatte man geflüstert, nicht nur platonisch. Von Rothpletz zumindest hatte es als sicher gegolten, dass er Männern mehr zugetan war als Frauen, und es hatte auch niemanden erstaunt, dass Kellerhals lange unverheiratet geblieben war. Erst in vorgerücktem Alter hatte er die Witwe eines Berner Privatbankiers geheiratet. Sie war vor zehn Jahren gestorben, und Kellerhals hatte ausser einem Haus in der Berner Altstadt ein Landschlösschen und ein respektables Barvermögen geerbt.
Schon vor vierzehn Tagen hatte Kellerhals, zittrig, so dass es kaum zu lesen war, an Frischknecht geschrieben, dass er wegen seiner Gebrechlichkeit auf die Teilnahme am diesjährigen Klassentreffen in Trogen leider verzichten müsse, aber die Kameraden und Freunde herzlich grüssen lasse.
Frischknecht sass noch keine Viertelstunde an dem Tisch vor dem Gasthaus, als Lukas Rothpletz in beiger Kolonialbaumwolle und Strohhut aus der Kirche trat und zu ihm herüberschlenderte.
«Ich bin jedesmal entzückt von diesem Platz und dieser Kirche», sagte er. «Und jedesmal, wenn ich hier bin, muss ich dem alten Grubenmann die Reverenz erweisen. Was wäre aus diesem Provinzbaumeister geworden, wenn er in Italien gewesen wäre!»
Lukas Rothpletz kam aus Basel, wo er, seitdem er aus Florenz zurückgekehrt war, wieder in seinem Elternhaus in der Nähe des alten Kollegiengebäudes am Rheinsprung wohnte. Er hatte sich mit fünfundsechzig entschlossen, nach Italien überzusiedeln, und in der Altstadt von Florenz eine Wohnung gekauft. Zehn Jahre später habe er jedoch einsehen müssen, erzählte er gern, dass er halt ein transalpiner Typ sei, und habe deshalb seine florentinischen Zelte wieder abgebrochen. Er war seinerzeit nach Trogen gekommen, weil seine Leistungen am Basler Humanistischen Gymnasium zu wünschen übrig gelassen hatten. Seit Generationen wäre Rothpletz der erste in der Familie gewesen, der ohne Matura hätte durchs Leben gehen müssen. So war er der erste, der sie ohne Griechisch, nur mit Latein schaffte. Dennoch war er Kunsthistoriker geworden und war zuletzt Leiter einer privaten Stiftung von europäischem Format und ausserordentlicher Professor an der Universität in Basel. In Fachzeitschriften publizierte er auch jetzt noch hie und da Aufsätze über entlegene kunsthistorische Themen. «Kommt Kellerhals?» fragte Rothpletz.
«Nein. Er fühlt sich zu schwach», sagte Frischknecht. «Und auch Arnold kann nicht kommen. Seine Tochter hat mich gestern angerufen.»
Arnold Anderegg, begabter Bauernsohn aus dem appenzellischen Hinterland, frühreifer Lyriker, hatte sein Leben als Adjunkt im Staatsarchiv des Kantons St. Gallen verbracht.
«Sein Magen will nicht mehr.»
«Krebs?»
«Man spricht nicht davon, aber ich vermute es.»
«Der arme Kerl», sagte Rothpletz und setzte sich. «Man weiss nicht, was man hat, wenn man in unserem Alter gesund ist. Ich glaube, Arnold hat nie verdaut, dass er nur Adjunkt geblieben und nicht Staatsarchivar geworden ist.»
«Meinst du? Ich hielt ihn nie für besonders ehrgeizig. Und an der Welt hat er eigentlich schon immer gelitten. Erinnerst du dich noch an seine Aufsätze? ‹Gut›, sagte der alte Knall oft, ‹sehr gut, Anderegg, aber viel zu pessimistisch. Wie wollen Sie mit dieser Haltung durchs Leben kommen?›»
«Wer leidet nicht an der Welt? Nur muss man einmal damit aufhören», sagte Rothpletz.
«Die einen hören früh auf, die anderen spät.»
«Zu spät. Wenn der Krebs nicht mehr zu heilen ist.»
Rothpletz hatte einen Campari mit Soda bestellt. «Dann kommt also nur noch Meyer. Sicher wie immer mit dem Auto.»
«Ich habe nichts anderes gehört», sagte Frischknecht.
«Wir werden immer weniger», sagte Rothpletz, «jetzt, wo auch Ernst Winter nicht mehr kommt. Ich habe es bedauert, dass ich ausgerechnet in der Zeit in London war, als er starb. In der National Gallery waren die Holbein-Zeichnungen aus Windsor Castle ausgestellt. Wie war denn die Beerdigung?»
«Nicht aufregend», sagte Frischknecht. «Meyer nahm mich mit dem Wagen mit. Es war, wie es ist, wenn ein alter Jurist in einer Kleinstadt wie Weinfelden stirbt, der früher einmal Gemeinderat, dann, ich weiss nicht wie lange, Kantonsrat und schliesslich Oberrichter gewesen ist. Kränze, Fahnen, Reden. Die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt.»
«Er schien letztes Jahr noch recht beieinanderzusein», sagte Rothpletz. «Ich erinnere mich, wie er dort um die Ecke kam. Wir sassen schon hier und sagten noch, er sei erstaunlich gut zu Fuss.»
«Es fehlte ihm auch nichts bis ans Ende», sagte Frischknecht. «Er hatte alte Kollegen in Frauenfeld getroffen und mit ihnen Karten gespielt, wie jeden Monat einmal, war fröhlich nach Hause gekommen und gesund zu Bett gegangen. Am nächsten Morgen fand ihn seine Frau. Tot. Herzschlag im Schlaf.»
«Ein Tod, wie man ihn sich wünscht», sagte Rothpletz. «Hast du einen Kranz bestellt?»
«Ja», sagte Frischknecht.
«Und wer führt nun die Kasse?»
Bisher hatte Winter die Kasse geführt, in die jeder jedes Jahr etwas einlegte, damit die Kränze bei den Bestattungen bezahlt werden konnten. «Interimistisch habe ich sie zu mir genommen», sagte Frischknecht.
Die Kirchturmuhr schlug zwölf.
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 39–41.
Erstpublikation: Ulrich Knellwolf: Klassentreffen. Kriminalroman. Zürich: Arche Verlag, 1995. S. 15–23.