Literaturland


Heinrich Kuhn

Schatz und Muus

1986

Sie sind ein altes Ehepaar, er nennt sie ‹Muus›, sie ihn ‹Schatz›. Er war Fahrdienstleiter bei der Bahn und legt Wert auf Pünktlichkeit und Ordnung. Gewohnheit und eingespielte Rituale prägen denn auch den brüchig gewordenen Alltag der beiden.

WIE JEDEN MORGEN STAND ER UM DIESELBE ZEIT AUF.
Er ging hinaus.
Während er sein Medikament nahm, musterte er normalerweise den Hof. Das Beet, das jetzt geräumt war. Den Vorplatz und die Werkstatt des Nachbarn. Und mit einem Blick, dazu musste er jeweils das Fenster einen Spalt öffnen, den Weg hinunter zum Hintereingang des ‹Talhof›.

Jede Veränderung würde ich auf Anhieb erkennen. Das hatte er ihr schon mehr als einmal gesagt.
Warum er heute nicht hinausschaute, hätte er nicht erklären können.

Er ging ins Schlafzimmer zurück und setzte sich auf die Bettkante.
Sie schlief noch.
Jetzt waren die Beine an der Reihe: Zuerst massierte er das rechte, anschliessend das linke.

An einer klaren Ordnung kann man sich festhalten wie an einer soliden Leiter, dachte er befriedigt. Und eine solche Leiter ist gut verankert und hat keine morschen Sprossen.
Was passiert, wenn eine klare Ordnung fehlt, sieht man heute überall.
Jakob hatte er das auch schon erklären wollen. Wenn dieser ihm gesagt hatte, er solle doch einmal fünf gerade sein lassen.

Fünf gerade sein lassen.
Hatte der eine Ahnung.
Was ungerade war, konnte man höchstens zurechtzubiegen versuchen. Erst wenn es gerade war, konnte man es gerade sein lassen.
Er stutzte.
Etwas mit meiner Morgenordnung stimmt heute nicht, dachte er.
Mühsam stand er wieder auf.
Bevor er ans Fenster trat, schaute er auf die Uhr. Ob es letzte Nacht einen Stromausfall gegeben hatte? Dann wäre ich ja zu spät aufgestanden, überlegte er.
Um diese Zeit war es sonst nicht so ruhig.

Gewohnheitsmässig schaute er zu ihr hinüber.
Er erschrak.
Sein Herz begann wilde Sprünge zu machen.
Sie atmet nicht mehr!
Er taumelte, und es gelang ihm nur mit Mühe, sich wieder auf die Bettkante zu setzen. Lichtpunkte in allen Farben wirbelten durcheinander. Ein Geflirr wie auf der Achterbahn.

Ist dir nicht gut?
Wo bin ich, dachte er.

Dann spürte er ihre Hand.
Geht es dir nicht gut? Soll ich dir etwas holen, fragte sie.
Langsam beruhigte sich die rasende Fahrt.
Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
Warum kriechst du immer so weit unter die Decke, sagte er. Man sieht ja nicht einmal, ob du atmest.
Den Kopf in die Hände gestützt, blieb er sitzen.
Wenn nur ich zuerst gehen kann, sagte er vor sich hin.
Ich habe dich nicht verstanden, sagte sie.
Jetzt hat ihre Stimme wie eine Kinderstimme getönt, dachte er.
Das macht nichts, sagte er. Es ist nicht wichtig.

Noch unbeholfen erhob er sich und zögernd trat er ans Fenster. Mit einem Finger schob er den Vorhang zur Seite.

Es schneite.

Der Platz war weiss.
Die Brunnensäule in der Platzmitte trug einen weichen Hut. Die Strassenlampen warfen gelbe, unmerklich schwankende Lichthöfe in den Schnee.
Das Wirtshausschild des ‹Talhof› war so verkrustet; dass es wie ein Raubvogel aussah.
Von der Wirtshaustür führte schnurgerade eine Fussspur zur Bäckerei hinüber.
Auf den Nebenstrassen, die vom Platz abzweigten, war noch nicht gepfadet worden.
Und auf der Hauptstrasse lag ein dichter, flachgepresster Schneebelag.
Die eckigen Konturen der kahlen Bäume waren weich geworden.

Er drehte sich um und sah sie zärtlich an.

Dann schaute er wieder auf den Platz hinunter. Es hat geschneit, sagte er. Und es schneit immer noch. Deshalb hat heute morgen meine Ordnung nicht gestimmt. Der Schnee hat alle Geräusche gedämpft.
Und unser Bauamt ist auch überrascht worden. Obwohl der Schnee schon seit einer Weile fällig war.
Wahrscheinlich haben sie noch nicht einmal den Schneepflug gerüstet.
Jetzt ist es Winter, sagte er.
Ab heute stehen wir eine halbe Stunde später auf.
Das ist unser Winterfahrplan.
Im Winter ist acht Uhr noch früh genug.
Er ging wieder zum Bett zurück.
Siehst du, jetzt geht es mir gut.
Er setzte sich ein paarmal rasch auf die Bettkante und richtete sich ebenso rasch wieder auf. Ich könnte Bäume ausreissen, sagte er.
Er legte sich hin.
Jetzt habe ich die Nachrichten verpasst. Er schaute auf die Uhr.
Nullsiebenelf.
Und alles nur wegen des Schreckens, den du mir eingejagt hast, sagte er. Es hätte mich wundergenommen, ob sie etwas von Schnee gesagt haben.
Sie suchte seine Hand. Wir haben das Wetter ja vor der Haustür. Genügt dir das nicht?
Die Wetterprognose gehört auch zu meiner Ordnung, sagte er.
Du und deine Ordnung, sagte sie.

Heute will ich Annina und Jakob anrufen, nahm sie sich vor. Ich habe den Kindern versprochen anzurufen, wenn es bei uns zum erstenmal schneit.
Wahrscheinlich telefoniere ich am besten vor dem Mittagessen. Dann sind alle zu Hause.
Sie drehte sich auf seine Seite.
Heute lade ich dich zum Mittagessen ein. In den ‹Talhof›. Bist du einverstanden?
Genehmigt, sagte er. Ohne Gegenstimme.
Vor dem Mittagessen will ich nur noch rasch beim Bahnhof vorbeigehen.
Ob sie mit dem ersten Schnee fertig geworden sind?
Heute wird es überall Verspätungen geben.
Wenn nur wir mit dem ersten Schnee fertig werden, sagte sie.

Von draussen hörte man das Brummen eines schweren Motors, der in gleichmässigen Abständen hochtourig lief und dann wieder abflachte. Dazwischen liess sich ein helles, durchdringendes Schaben wahrnehmen.

Jetzt haben sie den Pflug doch noch gefunden, sagte er. Es war höchste Zeit. Und wenn mich nicht alles täuscht, ist auch Hugentobler schon an der Arbeit.
Heute ist sein Wischtag, sagte sie.
Schon recht, sagte er, das stört mich nicht, nur wie er schaufelt!

Es war auch schon so, dass der erste Schnee liegengeblieben ist, sagte sie.
Es schneit ruhig und senkrecht, sagte er.
Und so ruhig, wie er kommt, wird er wieder gehen. Also wird dieser Schnee wohl einige Zeit liegenbleiben.

Rück ein wenig näher zu mir, sagte sie.
Wenn ich nicht unter die Decke kriechen darf, habe ich zu kalt.

Er rückte ein Stück hinüber.
Jetzt musst du mir ein Stück entgegenkommen, sagte er. Und dann bin ich wieder an der Reihe. Weisst du noch?
Und ob, kicherte sie und rutschte ein bisschen nach rechts.

Ja, ja, Muus, sagte er. Wenn ich dich nicht hätte.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 229–232.

Erstpublikation: Heinrich Kuhn: Schatz und Muus. Erzählung. Basel: Lenos Verlag, 1986. S. 135–141.