Literaturland


Cécile Lauber

Land deiner Mutter

1950

Der Jugendroman erzählt vom Waisenknaben Nicco. Er ist von Süden her über die Alpen gekommen und durchstreift mit seinem Musikkasten, dem Hund Poverello und dem Äffchen Nemi das Land seiner Mutter, die Schweiz. Über das Rheintal gelangt er ins Appenzellerland. Stets trifft er auf Fremde, die ihn ein Stück des Wegs begleiten und ihm von Land und Leuten erzählen. Niccos Blick richtet sich auf den ‹Steinigen Tisch›, und sein Wanderkumpan beginnt:

Das Spielzeug der Riesenkinder

«In grauer Vorzeit, als die Welt noch nicht zur Ruhe gekommen war und die Völker ihre Heimstätten noch nicht gefunden hatten, kam ein Trupp von Riesen von Norden her gegen unser Land gewandert. Und obwohl sie Siebenmeilenstiefel an den Füssen trugen und mit jedem Schritt ein ganzes Land hinter sich brachten, war es doch ein fauler und bequemer Schlag. Als sie nun hier eintrafen und unserer Berge gewahr wurden, in denen noch keine Menschen hausten, sagten sie zueinander: ‹Was wollen wir noch lange Häuser bauen? Hier haben wir ja alles, was wir brauchen, schon fix und fertig vor uns.› Und die Frauen der Riesen, indem sie auf den See und das flache Land deuteten, riefen vergnügt: ‹Und da steht auch schon die Badewanne für unsere Kinder, und der Platz, auf dem sie springen können!›

So richteten sich denn die Riesen ein und machten es sich gemütlich. Als sie aber am andern Morgen aufwachten und die verschlafenen Augen ausrieben, glaubten sie etwas ganz Wunderliches zu entdecken. Auf dem Land unter ihren Felsenfenstern kribbelte und krabbelte es. Da standen winzige Häuschen aus Schindeln und aus Balken. Zierliche Persönchen eilten hin und her, und noch viel vergnüglichere Tierchen bewegten sich zwischen ihnen. Denn das jetzige Land Appenzell wurde zu jener Zeit von einem fleissigen und harmlosen Volk von Zwergen bewohnt, das viel älter war als das der Riesen, und diese hatten es nur am Abend vorher nicht bemerkt. Denn die Augen der Riesen sind etwas blöde, besonders in der Dämmerung. Sie sehen besser in die Ferne als in die Nähe.

‹Da haben wir auch noch das Spielzeug für unsere Kleinen›, riefen die Riesenfrauen hocherfreut, und sie begannen das ganze Volk samt ihren Tieren und Wohnstätten, den Wäldern und den Zäunen mit einem einzigen Armwisch abzuräumen. Dann hiessen sie ihre Kinder an den steinernen Tisch sitzen und das Spielzeug darauf aufstellen. Natürlich gefiel das den Riesenkindern ausgezeichnet und um so besser, als die Zwerge in ihrem Schreck und in ihrer Angst zu schreien anfingen und wie ein aufgestöbertes Ameisenvolk durcheinanderliefen. Ja, die Kinder waren viel zufriedener als die armen Zwerge, die alle Anstrengungen machten, um auszukneifen und von dem Tisch herunterzukommen; jeden Abend, so wie die Kinder sich entfernt hatten, suchten sie ein neues Versteck auf, so dass die Riesenfrauen am Morgen keine geringe Mühe hatten, die Zwerge wieder ausfindig zu machen und neu zusammenzulesen. Um dem abzuhelfen, spalteten ihre Männer mit Steinäxten einen Berg entzwei, kratzten ihn mit den Waidmessern aus und sperrten jeden Abend das Volk der Zwerge mit all ihren Habseligkeiten darin ein. Den Berg nannten sie den ‹Hohen Kasten›, und wenn du dich umdrehst, kannst du ihn dort drüben, im Süden, immer noch stehn sehen.» […]

«Als nun die Riesenmänner den Berg spalteten, drang das Dröhnen ihrer Äxte bis hinunter in das verschwiegene Reich der Feen und Gnomen, die die Schätze der Erde hüten, und störte sie auf. Und das Schreien und Jammern des Zwergenvolkes in der Nacht sorgte dafür, dass sie keine Ruhe mehr fanden. Da sie von jeher mit den Zwergen gut ausgekommen waren, beschlossen sie, ihnen nun auch zu helfen. Sie sandten Boten zu den Schmieden, die das Feuer im Kern der Erde aufrecht erhalten und baten sie, Glut in die unterirdischen Erzadern der Gebirge einströmen zu lassen, so dass die Riesen nachts auf ihren Felsbetten wie auf erhitzten Rosten lagen, aufsprangen und in die Ebene hinunter liefen, weil sie sonst unfehlbar gebraten worden wären. Vergeblich suchten sie ihre Betten abzukühlen, indem sie mit Eimern den ganzen Bodensee ausschöpften und das Wasser über die Felsen gossen, so dass das ganze Volk der Zwerge ersoffen wäre, hätte es nicht im ‹Hohen Kasten› gesteckt. Das Wasser zischte zwar den Riesen um die Nasen, und sein Dampf hüllte die Berge ein; aber es lief eilig durch die Flussbetten zurück zum See, und die Felsen glühten noch ärger als zuvor, so dass den Riesen nichts anderes übrig blieb, als Reissaus zu nehmen. Und ihre Furcht, ihr Schrecken waren so gewaltig, dass sie auf ihrer Flucht nicht eher einhielten, als bis sie das weite Meer erreicht hatten, in das sie nun hineinstanden, um ihre versengten Füsse zu kühlen. Den ‹Hohen Kasten› hatten sie zu schliessen vergessen. Da kletterten denn die Zwerge fröhlich heraus und begannen in grosser Freude und Dankbarkeit ihre Habseligkeiten, Häuschen, Wälder und Zäune, wieder aufzustellen.

Und als das letzte Lebewesen den Berg verlassen hatte, schmetterten die Geister ihn wieder zu. Dabei aber übersahen sie das Schnappschloss, das einer der Riesen angehängt hatte. Es blieb offen zurück, und du kannst es heute noch, einem Schnabel ähnlich, von der Höhe herunterbaumeln sehen.»

 

Jokebs Märchen

Man kann es gut verstehn, wenn die Alpen als eine Art Vorgarten des Himmels oder gar als ein Stück zurückgelassenen Paradieses angesehen werden; aber man muss es ebenfalls begreifen, wenn gewisse Leute von ihnen behaupten, sie seien der Eingang zur Unterwelt und der Aufenthaltsort unheimlicher und düsterer Geister; denn in keinem Teil der Welt sind die Gegensätze gewaltiger als in jenem, der zwischen Himmel und Erde aufgetürmt steht, Wolken und Winde bald über sich, bald unter sich vorüberziehen sieht und die volle Wucht des himmlischen Lichtes und die ungehemmte Kraft der Elemente an sich erfährt. Und gerade im Frühling sind jähe Wechsel am häufigsten.

Als Nicco hörte, er dürfe mit Jokeb auf die Alpe ziehen, war er überglücklich. […] Jokeb verstand von schauerlichen Dingen zu erzählen, die nicht nur das Herz eines Kindes erzittern machten: Vom Schrecken, der plötzlich in die Kühe fährt, so dass sie sinnlos durcheinander rennen und ihre Glocken verstört und schauerlich durch die Nacht gellen; von Schafherden, die eben noch friedlich weideten und auf einmal, als hätte ein Sturmwind sie angefasst, dem Leithammel nach, über eine Wand hinausjagen; von den lustigen und fröhlichen Ziegen, die von einem Augenblick auf den andern erstarren und bewegungslos stehn bleiben, als wären sie aus Holz geschnitzt, und sich, bis die Abendglocke läutet, nicht mehr von der Stelle rühren können. […] Ja, der Senn sah am hellen Tag und überall Gespenster; und wenn um den Siegel ein Nebel strich, war es der Stiefelhannes, der ehemals als Ammann im Rheintal sich des Betrugs schuldig gemacht hatte und nach seinem Hinschied auf den Siegel gebannt worden war. Dort trieb er sich jetzt um als Ungeheuer, schlich nächtens in die StäIle, schreckte das Vieh und frass aus dem Säutrog. Wenn aber eine Ziege sich verstiegen hatte und auf den ersten Ruf nicht gleich zu finden war, hatte der dreibeinige Hase sie in ein Erdloch gelockt, damit sie ein Bein breche; denn da er selber nur drei Beine besass, zur Strafe dafür, dass er davongehoppelt war, als der heilige Gallus, auf einem Feldstein ausruhend, von einer Krähe angefallen wurde und ihn um Hilfe anrief, hasste er alles, was auf Vieren daherging und suchte ihm zu schaden.

Wo aber auch Jokeb beginnen mochte, am Schluss endete er bei seinem meistgefürchteten Lieblingsgespenst, dem schrecklichen Wüetihö.

Es war ja noch so früh im Jahr, zu einer Zeit, da man sonst das Vieh nicht in die höhern Lagen treibt. Die Alpauffahrt macht sich auch im Appenzellerland gewohnterweise nicht vor dem Junianfang. Aber in diesem Jahr hatte man sich genötigt gesehen, das eben genesene und das von der Seuche verschonte Vieh vom andern abzusondern, und die früh einsetzende Wärme war den Bauern zu Hilfe gekommen. Aber Jokeb wusste, dass die Geister nicht mit sich spassen lassen und eine verfrühte Störung ihrer Ruhe rächen, und er hatte sich nur mit grösstem Widerstreben seiner Pflicht gefügt.

Darum fiel es Jokeb auch nicht leicht, am Landsgemeindetag von der fröhlichen Wirtshaustafel aufzubrechen. […] Es war kein heller Tag. Aber die Dämmerungen zogen sich jetzt schon weit hinaus, und das halbe Licht schien hinter einer sehr hoch oben ausgebreiteten Nebeldecke stillzustehn, als sie nun das Städtchen hinter sich liessen.

Jokeb, dem ein Handbub noch gefehlt hatte, war froh, nun zu zweit ausziehen zu können, und die vielen Schnäpse und das fröhliche Abschiednehmen hatten ihn in die beste Laune versetzt.

Als er nun sah, wie der Kleine an seiner Seite verwundert die wildgezackte Kette der Berge betrachtete, ging in ihm gleich die Erzählerlust los.

«Die sehen seltsam aus, nicht wahr?», ging er ihn an. «Wenn du aber erst wüsstest, dass das gar keine richtigen Berge sind, sondern drei hintereinander erstarrte Sturzwellen eines gewaltigen Meeres, würdest du dich nicht mehr wundern.»

«Eines Meeres?», fragte Nicco ungläubig. «Ja woher ist denn das viele Wasser gekommen?»

«Vom Himmel natürlich», entgegnete Jokeb. «Als der liebe Gott mit seiner Sintflut die ganze Erde ersäufen wollte, lag auch unser Appenzellerländchen tief auf dem Grunde eines Meeres, so tief, dass der Engel, der mit der Taube ausgesandt worden war, um den Wassern zu gebieten, es ganz vergass. Erst, als schon über allen Ländern die Meere dem Befehl gehorcht hatten und abgezogen waren, vernahm er das Brausen und Rauschen, das hier weitertobte in mächtiger Brandung. Da wurde ihm angst, der Herrgott könnte ihn für seine Vergesslichkeit bestrafen; er streckte schnell seine Hände aus und gebot den Fluten zu erstarren, als sie gerade im höchsten Schwung neu anliefen. Daraus ist das Säntisgebirge entstanden. Schau den Kamm dort drüben hinter der Ebenalp und dem Schäfler, das ist der Muschelberg. Er ist nicht aus Stein geformt, sondern aus lauter festgepressten Muscheln. Aber», – fügte er mit Nachdruck hinzu, «das ist lange noch nicht das Seltsamste, was es in diesen Bergen zu sehen und zu hören gibt.» […]

Vor dem letzten Haus im Weissbad stand die Bäckersfrau und fragte bekümmert: «Jokeb, was hat der Landammann gesagt? Macht der Schwob Krieg?»

«Freilich wird’s Krieg geben; das hat mir ein anderer als der Landammann gesagt, der es besser weiss.» «Ach Jokeb», seufzte die Frau, «allweg siehst du Gespenster!»

Sie überschritten jetzt eine Brücke, rückten den Bergen an den Leib und liessen die letzten Häuser hinter sich zurück.

«Wer ist der, der es besser weiss als der Landammann?», fragte Nicco neugierig, als Jokeb stehnblieb, um etwas zu verschnaufen. Von der Stelle aus, auf der sie sich befanden, konnte man gut die drei Gebirgsketten unterscheiden, die durch gleichlaufende Täler getrennt, dem Säntismassiv zustreben. Jokeb zeigte in die Höhe, nach einer senkrecht abfallenden, drohenden Felswand im ersten Gebirgszug, den sie nun seitlich hinter sich liessen.

«Kannst du das Adlernest dort oben sehen?», fragte er.

Nicco strengte sich sehr an. «Ich sehe kein Adlernest», sagte er nach einer Weile, «aber eine ganze Reihe seltsamer Löcher in der Felswand. Ich sehe ein Haus in der einen Höhle und in der andern etwas, das einem winzigen Kirchturm ähnlich sieht.»

«Das ist das Adlernest des Einsiedlermönches Ekkehard an der Wildwand; und das Türmchen ist das Wildkirchlein», antwortete Jokeb.

«Von dort aus muss es herrlich sein hinunterzuschauen», sagte der Kleine ganz versonnen. «Wohnt der Mönch das ganze Jahr dort?»

«Er starb vor einigen hundert Jahren; aber er bewohnt immer noch den finstern Gang, der von jener Höhle durch den Berg in die Ebenalp hinüberführt. Und wenn dem Land eine Gefahr droht, kommt er heraus, setzt sich vor seine Höhle und hält Wache.»

«Hast du ihn gesehen?»

«Ja, freilich! Heute, in der Frühe, als ich an die Landsgemeinde ging, sass er dort oben und schaute gen Norden über die deutschen Lande hinaus zum Hohentwil hinüber, von wo er einst hergeflohen kam. Die Geschichte soll dir ein anderer erzählen.»

«Das ist gewiss eine merkwürdige Geschichte!»

«Ja, aber es ist noch lange nicht das Seltsamste, was man in diesen Bergen zu sehen und zu hören bekommt.»

Sie gingen weiter, und Nicco war sehr damit beschäftigt, an das zu denken, was ihm Jokeb erzählt hatte.

«Die Höhle und den finstern Gang möchte ich einmal sehen», sagte er vor sich hin.

«Es wäre dir nicht gemütlich gewesen, zur Zeit des Mönchs darin zu hausen, so wie er gehaust hat», sagte Jokeb schmunzelnd. «Sie haben Knochen im Gang gefunden von Tieren, die fünfmal grösser waren als ein Elefant und mitten in der Stirne ein Horn trugen, so hoch wie der Kirchturm in Appenzell. Auch kamen des Winters von der Alp her oft Bären zu Besuch. Was würdest du für Augen machen, wenn plötzlich ein Bär vor dir stünde?»

Nicco musste lachen. «Ich fürchte mich nicht vor Bären!», sagte er, nicht wenig stolz.

Sie waren mittlerweile in eine enge und steile Schlucht eingedrungen, und der Kleine, gewohnt, mit wachen Augen um sich zu schauen, fragte Jokeb, wo sie sich jetzt befänden.

«Das ist das Brültobel», erklärte Jokeb, froh, erzählen zu dürfen; denn so wie der Schnapsdunst sich in seinem Kopfe zu verflüchtigen begann, wurde er trübsinnig und düster.

«Hat es seinen Namen davon, dass der Bach brüllt?», fragte der Kleine.

«Ja, wenn es nur der Bach wäre», seufzte Jokeb, aber es ist der böse Hirte mit seiner Kuh, die du hörst.

Denn es war einmal ein ungetreuer Hirte in dieser Gegend, der die ihm anvertraute Kuh einer armen Witwe nicht leiden konnte, weil sie sich immer an den Rand des Abhangs hinaus begab. Eines Tages legte er Tannreiser auf ihren Gang; darüber glitt sie denn auch richtig aus und stürzte in die Tiefe. Nun ist der Hirte für ewige Zeit dazu verdammt, die Kuh an einem Strick aus der Tiefe heraufzuziehen. Wenn er sie schon nahe dem Rande hat, glitscht er aus und stürzt zusamt dem Strick und dem Vieh brüllend wieder hinunter in den Abgrund.»

«Das ist eine merkwürdige Geschichte», sagte der Kleine nachdenklich.

«Ja, aber es ist noch lange nicht das Merkwürdigste und Seltsamste, was man in diesen Bergen zu hören und zu sehen bekommt.»

Sie stiegen weiter, und Nicco fiel es je länger je schwerer, zu tun, als fühle er keine Müdigkeit. […] Nach einer Weile wurde der Wald sehr sonderbar. Das Laubholz war verschwunden, die Tannen standen zwar noch ebenso dicht beisammen, liessen lange Bärte wallen und sahen alt und ehrwürdig aus, aber sie wurden niedriger und niedriger. Schliesslich erhoben sie sich nur noch so wenig hoch, dass der Kleine, wäre er neben einem der Bäume gestanden, sicher mit dem Kopf über dessen Spitze hinausgeragt hätte.

«Was ist das für ein seltsamer Wald? Der steht wohl noch nicht lange hier?», wandte sich der Kleine an Jokeb, der nur auf diese Frage gewartet zu haben schien.

«Oh bloss einige hundert Jährchen», antwortete er, hielt an und verschnaufte. «Wir sind jetzt im ‹kalten Boden› angelangt. Die Erde hier ist das ganze Jahr wie verfroren. Kein Sonnenstrahl vermag sie zu erwärmen. Und wenn du deine Hand vor einen Spalt hältst, so weht es dir eisig daraus entgegen.»

«Woher mag das kommen?», fragte Nicco.

«Wahrscheinlich liegen in der Tiefe Eisfelder verborgen. Man weiss das nicht so genau. Weiss man doch ebensowenig, wohin die Wasser der Seen fliessen.»

«Das ist ein merkwürdiges Land!»

«Ja, aber es ist noch lange nicht das Merkwürdigste, was es in diesen Bergen zu sehen und zu hören gibt.»

Als Jokeb diese Worte sprach, blickte ihn der Kleine erschrocken an. Anfänglich hatte er gar nicht auf diese Redensart geachtet; später vermochte sie ihn bloss neugierig zu machen, jetzt aber erfüllte sie ihn mit wachsender Bangigkeit. Er konnte sich nicht mehr richtig freuen, als jetzt die Steigung ein Ende nahm und sie eine Stelle erreichten, von wo aus in ziemlicher Tiefe unter ihnen der silbergraue Spiegel eines Sees durch die Bäume schimmerte. Es war inzwischen auch Abend geworden, und der Himmel hatte sich mit finstern Wolken überzogen. Ferne Kuhglocken klangen halblaut und schwermütig herauf.

«Da unten sind wir zu Hause!», sagte Jokeb und blieb wieder stehn.

Nicco sprang erleichtert vom Karren. «Ich bin froh!», sagte er fröhlich. «Bei den Kühen und in deiner Hütte ist es sicher warm und schön. Und nun kannst du mir auch getrost sagen, was eigentlich das Merkwürdigste und Seltsamste ist, was man in diesen Bergen zu hören und zu sehen bekommt.»

Plötzlich drehte Jokeb sich dem Kleinen zu, und dieser fuhr erschrocken zurück. Denn in dem Gesicht des Sennen standen die Augen dunkel vor Furcht.

«Ich will es dir sagen, Kleiner, obwohl ich hoffe, du sehest und hörest es nie; denn es kann einer graue Haare davon bekommen.» Er beugte sich dicht zu Nicco hinab und flüsterte: «Es ist das ‹Wüetihö›!»

«Ist das ein Tier?», fragte Nicco ebenso leise zurück. Sein Herz begann heftig zu klopfen.

«Es ist ein Geist», antwortete Jokeb. «Er kann jede beliebige Gestalt annehmen und jede beliebige Stimme nachahmen. Wenn du an einen Kuhfladen stössest, und er schreit auf und läuft davon – so ist es das Wüetihö. Und wenn du einen Laubsack am Wege stehn siehst und willst ihn anfassen, er aber kichert und rollt davon – so ist es das Wüetihö. Es ist es, das im kalten Boden haust und die Tannen umklammert, dass sie nicht wachsen können, und dem Hirt die Kuh wieder hinunterreisst, und das Vieh erschreckt, und die Säutränke verunreinigt – es, das Wüetihö!»

Er kehrte sich um und zog den rumpelnden Karren abwärts den steilen, schlüpfrigen Waldweg hinunter, und der Kleine folgte ihm dicht auf mit zitternden Beinen.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 382–388.

Erstpublikation: Cécile Lauber: Land deiner Mutter. Bd. 2, Tl. 1. Zürich: Atlantis Verlag, 1950. S. 29–32, 66–75.