Literaturland


Elsbeth Maag

Stauberentexte

2011

* Stauberengrat: östlichster Grat des Alpsteins.

 

I
hockt
vom Buchser Küchenfenster
gerade Blicklinie nach Norden
ein steinerner Däumling
die Stauberenkanzel
Berg auf dem Berg

an Däumlings Fuss die
Kuh (Küchenfensterblick)
ist keine Kuh ist Haus ist
Gasthaus Berggasthaus

II
seit Stunden
Regenwolken überm Grat
als werweissten sie
wann und wo und
in welchem Mass

III
Frümsen das Dorf
drei Fussstunden oder
zehn Gondelbahnminuten
zum Grat

IV
Fuss- und Gedankengang:
was wohI wichtiger
das Oben das Unten
der Grat die Ebene
oder was dazwischen
die schroffen Wände
Schrunden Schränze Risse
die Hügel und deren Anmut
oder hoch oben das Wolkenspiel
die Ferne die Weite

V
der Grat ist Horizont
schneidet den Himmel ab
scharf
schickt den Berg ins Tal
ins Rheintal
ins Appenzellische
jäh

VI
eine Kanzel aus Fels
ein Kreuz
anstelle des Pfarrers
spricht der Wind
sprechen Winde
hoch und tief

VII
wie viele Töne
hat ein Berg?
warum so viele?
warum solche?

VIII
im Süden das
Rheintal das Föhntal
tief unten die Ebene
Werdenberg Heimat mein
(das Buchserküchenfenster nicht entdeckt)
der Rhein mit Silberblick
ab Flussmitte gilt Liechtenstein
Ausland mit Schweizerwährung

IX
Goldrollen als Wegbegleiter
Grat Gras Gold

plötzlich dieses leise
dieses Glücksgefühl

X
so viele Sterne
und hell erleuchtet
auch das Haus
und irgendwo
1751 m tiefer
das Meer

XI
wie sacht
der Himmel die Berge berührt
als wären’s Geliebte
als streichelte er Haut

XII
abschüssig der Weg
stutzig geht die Welt weiter
der Himmel flieht

XIII
ausgeschieden
die kleine Soldanella
Schuhtritt
tot

XIV
düster und schön
das Gewitterbild
das Grün fast schwarz
bizarr die Türme die
Felstürme Wolkentürme

im Regendunkel
verschwindet der Grat

XV
das Unwetter vorbei
jetzt das Versöhnliche
ein Abendrot ein
heller Himmel und
wie leichte Hände
Vögel

XVI
mitunter ein Ton
eine Schelle
ein Tier
ein abgelöster Stein
ein Ruf


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 319–322.

Erstpublikation: Elsbeth Maag: Pappeln rennen durchs Tal. Gedichte. Kreuzlingen: Isele, 2011. S. 51–66.