Literaturland
Niklaus Meienberg
Broger
«Wahrscheinlich weiss man in Zürich nicht, dass der Innerrhoder an der Landsgemeinde schwört, ‹die Ehre Gottes, die Ehre des Landammanns und des Landes Nutzen und Ehre zu fördern …›, ansonst würde man nicht einem Artikel die Spalten öffnen, der jedes Mass an Anstand übersieht», polterte Walter Koller in der Appenzeller Zeitung. Niklaus Meienbergs Reportage über Raymond Broger (1916–1980) im Tages-Anzeiger-Magazin sorgte für erhitzte Gemüter. Das Gedicht Epitaph entstand nach dem Tod des Landammanns.
Brogers waren schon gerüstet, als ich gegen Mittag in ihrer einfachen Appenzeller Residenz eintraf, er ein gewaltiger Brocken in Bundhosen hinter dem Schreibtisch in seiner Studierstube, sie mit den beiden Hündchen beschäftigt. Die Hündchen heissen Belli und Gräueli, während die Frau von ihrem Mann mit dem Kosenamen Lumpi gerufen wird. In einem NSU Ro 80 ging es in Richtung Gonten, ab Kassette strömte das Violinkonzert von Beethoven durch den Autoinnenraum. Dabei musste ich sofort an den rauhbeinigen Alex aus dem Film Clockwork Orange denken, welcher von Beethovens Musik zu Gewalttaten verleitet wird. Dank dem Fahrkomfort des Fahrwerks glitten wir sanft am Kloster ‹Leiden Christi› vorbei, wo Broger Klostervogt ist. Auch in Wonnenstein, Grimmenstein und Mariae Engel ist er Klostervogt. Alle Räder sind einzeln aufgehängt und abgefedert, Radfederung und Radführung sind sauber getrennt, Stabilisatoren stemmen sich gegen die Kurvenneigung. Ein richtiges Senatorenauto. Je schneller, desto geräuschloser, sagte Frau Broger, am leisesten bei 180 km/h. Irgendwo hinter dem Jakobsbad war die Fahrt zu Ende, der regierende Landammann zog den Zündschlüssel heraus, Beethoven brach mitten in der Kadenz zusammen.
Der Aufstieg begann. Die beiden Hündchen wurden ganz närrisch bei den vielen Wildspuren. Im Sommer kann der Landammann auf einem geteerten Strässchen bis zu seiner Berghütte hinauffahren. Das Strässchen wurde von umliegenden Bauern in Fronarbeit geteert (nicht dem Landammann zuliebe, sondern damit die Strasse wetterfest wurde für ihre landwirtschaftlichen Gefährte). Wir stapften durch den Schnee in die Höhe, angeführt vom Landammann, Ständerat, Klostervogt, Ombudsmann der Versicherungen, Präsidenten der schweizerischen Gruppe für Friedensforschung, Buttyra-Präsidenten, Präsidenten der Landeslotterie, Delegierten im Vorstand der Ostschweizerischen Radiogesellschaft, Vorsitzenden des Grossen Rates, Vorsitzenden der Landesschulkommission, Präsident des Eidg. Verbandes für Berufsberatung, Vorsitzenden der Bankkommission, Vorsitzenden der Anwaltsprüfungskommission, Mitglied der Jurakommission, Delegierten im Verwaltungsrat der Appenzeller Bahn, Vorsitzenden der Landsgemeinde, Mitglied der aussenpolitischen Kommission des Ständerates, Mitglied der Drogenkommission. Dieser ging voran mit dem Rucksack. Er ist noch rüstig, macht einen kolossal massigen Eindruck.
Epitaph
Wenn ich nicht
an die Unsterblichkeit der Seele glaubte
wär ich auch Revolutionär
dann würde ich die Erde in ein Paradies
zu verwandeln suchen
weil es aber
ein Jenseits gibt
kann ich mich gelassen geben
wir haben ja nachher
noch etwas (1)
nämlich diese Soirée de Gala, veranstaltet
in der Ewigkeit hinten im Vormärz 1980
zu Ehren von Dr.
Raymond Broger dem sattsam bekannten NSU Ro-80-Besitzer
und Landammann
nachdem er seine leibliche Hülle
abgestreift
& ihn seine beiden Hündchen Gräueli & Belli
& seine Frau die er Lumpi rief
in der anderen Welt
beweinten
(1) Broger zu Meienberg. 1973. Tages-Anzeiger-Magazin.
Beide Beiträge publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 533–534.
Erstpublikation Artikel: Niklaus Meienberg: Gespräche mit Broger und Eindrücke aus den Voralpen. In: Reportagen aus der Schweiz. Zürich: Limmat Verlag, 1984. S. 91–106, hier 95–96. Erstveröffentlichung in: Tages-Anzeiger-Magazin 1973, 19 (12. Mai). S. 14–23.
Erstpublikation Gedicht: Niklaus Meienberg: Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt ins Hochgebirge. Zürich: Limmat Verlag, 1981. S. 19