Literaturland


Helen Meier

Heimat braucht Gefühle

1985

Wenn ich nach Aufenthalten in der Fremde, sei es auch nur nach einer Ferienreise, zurückkehrte, schlug mir die Heimat wie eine Welle ins Gesicht, sanft, erschreckend. Dieses sauber Geordnete, diese selbstverständliche Pünktlichkeit! Dieses Gefühl der Sicherheit! Die Sprache ist eine vertraute Melodie, der man nicht mehr zuzuhören braucht. Diese Stützvermauerung der Landschaft, diese Zudeckung des Erdigen! Unterführungen, Überführungen, Orte, die sich zu gleichen beginnen, zum Verwechseln ähnlich werden mit Begradigungen, Tankstellen, Verlust der Mitte. Dann die Ankunft zu Hause, wo ich lebe, arbeite, liebe, hasse, dort, wo ich bin, wenn ich nicht fortreise. Schön, diese Ankunft! Alles hat auf mich gewartet. Der Lieblingsstuhl, die Lieblingsmusik. Die Tanne im Garten hat eine Nadelreihe mehr bekommen, das Gras ist gewachsen, die Geranien brauchen dringend Wasser, das Essen schmeckt wie lange nicht mehr, auch wenn es vorerst nur Brot und Käse ist. Der Staub im Wohnzimmer ist mein Staub, die Bettlaken haben meinen Geruch, die Luft ist die Luft, die ich vermisst habe. Ich bin daheim. Ich bin dort, wo ich sterben möchte. Ich bin da, wo ich die Erde angreifen kann, der Baum gehört zu mir, der Dachziegel trägt das Moos meiner Erinnerung, ich sehe meine Trittspuren im Gras. Wenn ich eine Blume abreisse, kommt mir in den Sinn, dass andere Völker sich dafür zu entschuldigen pflegten. Ich bin zugleich beruhigt und aufgeregt. Weil ich mein Eigenes wiederum spüre, kann ich an anderes denken. Weil ich gut schlafe, ich bin schliesslich daheim, die Geräusche sind die der Freunde, kann ich wach sein. Ich kann arbeiten, an Kommendes denken, an das, was nicht kommen darf, und wenn es trotzdem kommt, wie ich ihm begegne. Heimat ist für mich der Urgrund, die ungestörte Möglichkeit des Tuns, der Schauplatz meines Lebens, der Ort, wo alle Reisen münden, wo meine Füsse vorerst zu stehen haben, bevor sie zu gehen beginnen.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 68.

Erstpublikation: Helen Meier: Heimat braucht Gefühle. In: 75 Jahre Heimatschutz von Appenzell A. Rh. 1.-August-Beilage 
der Appenzeller Zeitung. Herisau, 1985. S. 3.