Literaturland


Louis Mettler

Die Kämpferin

1997

Die «Doña Quijote von Appenzell für die Ewigkeit: wunderlich und widerspenstig, misstrauisch und eigenwillig, erfolgreich und finanziell unabhängig», schreibt die NZZ zur Verleihung des Innerrhoder Kulturpreises 2007 an Sibylle Neff (1929–2010). Zehn Jahre vorher hat Louis Mettler der damals 68-Jährigen ein Porträt gewidmet.

Der grosse Innerrhoder Staatsmann Raymond Broger soll ihre Mutter einmal eine Familientyrannin genannt haben, worauf Sibylle geantwortet habe: «Ja, es gibt Mütter, die tyrannisieren ihre Familie. Es gibt aber auch Politiker, die tyrannisieren ein ganzes Volk.» Intelligent, überbesorgt, verbittert – das sind Attribute der Tochter für die Mutter, die zusammen mit ihr lange Zeit den Lebensunterhalt aus dem Stickrahmen – mit dem Erlös der Handstickerei – bestritten hatte. Die Mutter starb im Februar 1987 in ihren Armen. Und Sibylle will mit ihrem Ersparten eine Stiftung für Töchter und Söhne gründen, die ihre Eltern bis zum Tod bei sich behalten. Das hat sie fest im Sinn.

1960–1981. Die Zeit mit der noch gesunden Mutter an der Seite. Die Zeit, in der eine wahre Bilderflut aus Sibylle herausströmte. Fast hätte man das Gefühl, eine Bauernmalerin kennenzulernen. Ihre Winterlandschaften, ihre Alpfahrten, ihre Landszenen befreien sich aber schon bald von den Fesseln der ungeschriebenen Bauernmalergesetze. Sibylle Neff laviert, fügt Gegenwärtiges in die idealisierten Landschaften. 1974 malt sie, wie sich die Bagger zum Bau der Umfahrungsstrasse bei Steinegg in die Landschaft fressen.

Lange sitze ich vor einer Blässstudie. Der Appenzeller Bläss – Symbol für das Vorsichtige, nicht selten auch das hinterhältig Missverstandene – im Sitzen, Warten, Ausschauen. Dann ein Bild vom Café Voltaire in Paris: ein Blick in die Fremde, in die Welt der ‹offiziellen› Kunst. Schliesslich eine Zeichnung des heiligen Martin, in Händen das in zwei Hälften geteilte Haus; sie stellt das Lebensthema, das Streitobjekt von Jahrzehnten, dar. Unter der Zeichnung der Satz: Herr, wir danken Dir für unser halbes Haus.

[…]

E halbs Huus isch e halbi Höll, heisst ein Sprichwort. Diese halbe Hölle verteidigt sie. Vor allem das Plätzchen, auf dem ihr Vater noch im Freien gearbeitet hatte, gegen das Wegrecht zwischen Landsgemeindeplatz und dem Betonbunker der Feuerschaugemeinde in der Nachbarliegenschaft, das ihre Nutzung und Ruhe einschränken würde. «Schwindel-Betrug + Co. AG – Hier gibt’s nie eine Strasse», steht auf dem Transparent an ihrem Haus. Sie kämpft für ihren Hausteil am «Gerechtigkeitsplatz», wie sie den Landsgemeindeplatz ab und an spöttisch nennt.

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Sommer 1988. Sie sind unübersehbar, die Inserate im Appenzeller Volksfreund. Irgendwann ist es den Redaktoren wohl zu viel geworden, was Sibylle da immer wieder einsandte. Die Zeitung ist ja für alle da. «Wenn die nicht mehr alles drucken, dann zahle ich halt, was ich schreibe», sagte sie und bombardierte fortan Bevölkerung, Beamte, Behörden, Politiker mit regelmässigen Inseraten, die belächelt, bewundert oder verärgert zur Kenntnis genommen, aber stets gelesen wurden:

«Beim Verlassen des Hauptgottesdienstes ist ihr Heiligenschein neu aufpoliert, doch in die Augen schauen liessen sie niemanden.»

«Es gibt zwei Sorten von Menschen, die Gerechten und die Ungerechten. Das Sortieren wird von den Gerechten besorgt.»

«Sagt man, ‹eine› hat’s gesagt, ist’s soviel wie nichts. Hängt man Gewicht daran, sagt man, ein Mann hat’s gesagt. Will man nicht lügen, sagt man, ‹man› hat’s gesagt.»

Das Schlimmste sei, wenn man eine Böse sein muss, aber gar keine Böse sein will, hat sie einem Zeitungsreporter gesagt. Und Reporter und Fotografen gaben sich eine Zeitlang bei Sibylle die Türfalle in die Hand.

Landsgemeinde 1985. Vor Sibylles Haus hängt ein Kartonbild, zwei Fenster gross. Es zeigt den Landsgemeindemann beim Schwur, das Lindauerli im Mundwinkel, den Stiefel auf der Schulter der Frau, die mit Eimer und Fegbürste den Boden aufwischt. Klarer könnte das Sinnbild für das Patriarchalische vor der Haustür, wo noch immer Männer in einsamer Selbstgerechtigkeit regieren, nicht gemalt werden.

«Des Landes Stiefkind» nennt sie sich im Text daneben, meint aber alle Innerrhoder Frauen mit. Vor allem jene, die ihre Rechte wahrnehmen wollen, und das sind immer mehr. Dass sie damit klar für das Frauenstimmrecht eintrat, will sie heute, fast zehn Jahre später, so deutlich nicht gewollt haben. Aber bleiben wir in den Achtzigern.

«Gerade, lautere Menschen, wär’n ein schönes Ziel. Menschen ohne Rückgrat gibt es schon zu viel.» Das Zitat der DDR-Liedermacherin Bettina Wegner ziert ebenfalls die Fassade ihres Hauses, die für Einheimische und Touristen nicht nur anstössig, sondern auch besuchenswert geworden ist. Man will ja auf dem Laufenden sein. Sie musste dann manchmal am Sonntag in die Küche zügeln, weil hier vorne zu viel los sei.

[…]

An meinem Schreibtisch beim Sortieren der Unterlagen und vielen oft wirren Notizen schlage ich nochmals Bruno Knobels Porträt einer Malerin auf, der Appenzeller Malerin Sibylle Neff. Das Vorwort hat der Landammann und Ständerat geschrieben, der angesichts der Geschirrberge, die Sibylle als Echo zum Schwur in die Landsgemeindestille geschmissen hat, allen Grund zur Wut gehabt hätte. Ein freundliches Vorwort hat Carlo Schmid geschrieben, sie als eine der grössten zeichnerischen und malerischen Begabungen im Kanton bezeichnet: «Sibylle Neff braucht einen Freiraum, den es in der Kleinräumigkeit unseres kleinen Kantons nicht geben kann», schreibt er. «Grenzübertretungen sind in jenen engen Verhältnissen, die Sibylle Neff als Künstlerin mit liebender Hand abbildet, als Person aber als beklemmend empfindet, unabwendbar. Ich würde ihr wünschen, dass sie sich ins Unabwendbare füge, stünde nicht zu befürchten, gefügig verlöre sie ihre Kraft.» Etwas hinzuzufügen? Allenfalls die Widmung, die mir Sibylle auf den Heimweg gab, eher gemalt als geschrieben: «Mole hani chöne, wärche hani wele, kämpfe hani möse.»


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 539–541.

Erstpublikation: Louis Mettler: Bodennah. Zwölf Appenzeller Porträts zwischen Alpstein und Zukunft. Herisau: Appenzeller Verlag, 1997. S. 65–66, 69–71, 81–82.

Abb.: Sibylle Neff: Studien zum Appenzeller Bläss. Aquarell und Mischtechnik. 1977. Sibylle Neff-Stiftung, Appenzell. © Hermann Neff, Gais.