Literaturland


Daniele Muscionico

Emma Kunz. Seherin unter Blinden

2011

Sie meidet den Weg durchs Dorf. Den geraden Weg. Lieber nimmt sie den Umweg, besser geht sie entlang der Bahnlinie als durch Brittnau nach Hause. Richtung Zofingen muss sie, eine kleine Strecke nur, der Bahndamm soll ihr recht sein. Hier ist sie allein, Emmas Freunde sind die Blumen, und am Damm blühen sie besonders schön. Sie stehen beinah so üppig wie in ihrem Garten, wo die Ringelblumen es ihr lohnen, dass sie mit ihnen spricht. Als ihre Sonnenblumen acht Meter hoch wuchsen, flüsterten die Nachbarn: «Hexe!» und «Kurpfuscherin!», und der Dorfpfarrer schlich nächtlich ums Haus, um für Emma zu beten.

Sie ist das sechste Kind von zehn, Tochter eines armen Handwebers, der Vater trank sich in den Tod, ging ins Wasser, zwei der Geschwister starben ihm aus Kummer nach. Und sie, die Schülerin, ist sie nicht ein sonderbares Kind? Sie sagt voraus, wer im Dorf sterben wird, unheimlich ist das. Ihr Verhalten ist auffällig, dabei ist sie blitzgescheit. Mit achtzehn Jahren beginnt Emma zu pendeln und die Linien aufzuzeichnen, ganze Rechnungshefte werden mit den absonderlichen Strichzeichnungen gefüllt. Sie nutzt pendelnd ihre seherische Fähigkeit, um Kranken zu helfen, die kein Arzt mehr behandeln will. Doch der nächste Strich ist zu stark für ihre Umgebung: Sie ist neunzehn, legt ihr Erspartes zusammen und fährt nach Amerika. Ihrer Liebe will sie nachreisen, einem Pfarrerssohn.

Nur ein Jahr später ist Emma wieder zurück im Dorf. Eine Seherin, die ihr Glück nicht finden kann? Den Nachbarn kommt das zupass: Man verspottet sie als «Philadelphia», nach dem Ort ihrer Suche; und man spricht von schwarzer Magie, wenn Menschen von ihr geheilt werden. Emma kuriert mit dem Pendel oder mit Pflanzentinkturen, die sie selber herstellt. Das Geld für ihren Unterhalt verdient sie in der Strickerei Künzli in Strengelbach. Heilen ist christliche Nächstenliebe, Lohn dafür will sie nicht. Brittnau ist eng, Brittnau ist hämisch. Doch wohin soll sie sonst?

Es ist der Maler und Kunstkritiker Jakob Friedrich Welti, der auf sie aufmerksam wird. Er ein anerkannter Künstler, sie eine namenlose, dabei hellwache, hübsche junge Frau. Sie hat noch nie ein Buch gelesen, sagt sie, sie liest es, indem sie die Hand darauf legt. Was will er von ihr? Was will sie von ihm? Man trinkt Tee, und Emma erklärt Welti die Welt: Sie spricht von geistigen und energetischen Zusammenhängen und übergeordneten Prinzipien. «Alles geschieht nach einer bestimmten Gesetzmässigkeit, die ich in mir fühle und die mich nicht zur Ruhe kommen lässt.»

Deshalb zeichnet sie, deshalb forscht sie, jedes Bild eine Antwort auf eine Frage. Das kann eine Erkrankung sein, das Treffen Winston Churchills mit Franklin D. Roosevelt oder ein erkenntnistheoretisches Problem. Emma stellt sich vor das Papier, konzentriert sich und lotet mit dem Pendel die Zeichenfläche aus. Seine Bewegungen zeigen ihr, wo sie die Punkte zu setzen hat, wo diese mit Linien zu verbinden sind. Sie weiss, welche Linie dick, mittel oder fein sein soll, mit Bleistift, Buntstift oder Ölkreide zu ziehen ist, wo eine Fläche schraffiert, wo sie auszumalen sei. Jede Form hat für sie eine exakte Bedeutung.

Welti ist fasziniert von ihr. Er lädt sie als Gesellschafterin nach Engelberg ein, in den Sommermonaten. Dort soll sie zeichnen und ihm nichts schuldig sein. Brittnau verlassen? Emma nimmt die Stelle an, weiss sie, was sie erwartet?

Mit wachsendem Selbstbewusstsein beginnt sie mit grossformatigen Zeichnungen auf Millimeterpapier, das ihr ein Geheilter zur Verfügung stellt. Sie hat ihm das Leben gerettet, nun soll die Wundertätige von ihm zeitlebens so viel Papier erhalten, wie sie dessen bedarf: Doch vehement widerspricht sie dem Schwärmer: «Wunder gibt es nicht, alles ist Gesetz.» Was anderen als Wunder erscheint, ist die Folge natürlicher Regeln: Ihr Pendel verstärkt die Reaktion ihres Körpers auf elektromagnetische Felder, es überträgt elektrische Energie in mechanische Bewegung. Emma zeichnet ihre Bilder pendelnd, oft ohne Pause zwei Tage und zwei Nächte lang. Nur das Pendel weiss, wann sie vollendet sind.

Sechzehn Jahre lang lebt sie sommers in Engelberg, dann gibt sie die Stelle bei Welti auf, sie will in Brittnau ohne seinen Schutz weiterarbeiten. Ihre Heilerfolge sorgen für Aufregung: Dem Sekretär von Pater Pio verhilft sie zu neuem Augenlicht, da sie sein Nierenleiden erkennt und kuriert. Sie weiss: «Man muss nicht eine Krankheit behandeln, sondern den Menschen, der krank ist.» Die aufsehenerregendste Heilung geschieht 1942 einem sechsjährigen Jungen, der an Kinderlähmung leidet. Kein Arzt glaubt mehr an Besserung, doch Emma sieht pendelnd, dass ihm ein Heilgestein in seiner Umgebung helfen kann. Sie findet es zwei Tage später, in einem Römersteinbruch in Würenlos: zerriebener Muschelkalk, heute anerkannt als Heilerde ‹Aion A›.

Jetzt werden die Behörden auf sie aufmerksam. Im Kanton Aargau sind Naturheilpraktiken verboten! Der Kantonsarzt tritt auf den Plan, er drängt das Fräulein Kunz aus seinem Hoheitsgebiet. Wohin jetzt? Emma lässt sich in Lungern nieder, in der geistigen Nähe des geschätzten Bruder Klaus. Doch auch im Kanton Obwalden wird sich das Nämliche wiederholen: Die Naturheilerin ist aktenkundig erfolgreich, doch aktenkundig auch bei der Justiz, sie arbeitet in einem gesetzlichen Graubereich. Homöopathie, Magnetfeldtherapie, ganzheitliche Medizin, der Boden ist für Emmas Wissen noch nicht bereit. 1951 der Versuch, im Kanton Appenzell unbehindert arbeiten zu können, sie übersiedelt nach Waldstatt. Hier will sie nicht mehr als Heilerin, sondern vor allem als Forscherin tätig sein. Der Kantonschemiker Franz Decurtins ist ein begeisterter Anhänger ihrer Heilverfahren, in seinem Labor lässt er Medikamente nach ihren Anweisungen herstellen.

Auch Emma steht täglich in ihrem Laboratorium, im weissen Ärztekittel, ihr Pendel als treuster Begleiter. Sie weiss, dass ihr zugedacht ist, «meine Erkenntnisse auf anderem als dem naturwissenschaftlichen Weg zu sammeln». Im Dorf ist sie wohlgelitten, doch man konstatiert skeptisch die Besucher in Emmas bescheidenem Haus: Es sind nicht nur einfache Menschen, sondern auch hohe Militärs, Politiker, Vertreter der Industrie. Schriftlich deuten will sie ihre Zeichnungen nicht, und als ein Basler Chemiker mit einem Tonband erscheint, weist sie ihm die Tür.

Sie ist 71 Jahre alt, als sie erkennt, dass sie an Krebs erkrankt ist. Vier Monate bleiben ihr noch. Sie zeichnet ihr letztes Bild, eine einfache Pyramide, dann ist ihre Forschung abgeschlossen, sie bereitet sich auf den Übergang vor. Noch einmal spitzt sie die Buntstifte, noch einmal geht sie durch ihren Garten.

Später geschieht, was Emma voraussah: Zehn Jahre nach ihrem Tod eröffnet das Aargauer Kunsthaus eine Ausstellung mit ihren Zeichnungen. Kunstexperten sind verblüfft, Psychologen reiben sich die Augen, Astronomen wundern sich. Diese Künstlerin scheint vom Himmel gefallen, so eigenständig und visionär ist ihr Werk!

Harald Szeemann zeigt Emmas Bilder zusammen mit Arbeiten von Joseph Beuys und Rudolf Steiner. Er nennt sie «Richtkräfte für das 21. Jahrhundert».


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 562–564.

Erstpublikation: Daniele Muscionico: Starke Schweizer Frauen. 24 Porträts. Zürich: Limmat Verlag, 2011. S. 42–47.