Literaturland


Wolf von Niebelschütz

Auch ich in Arkadien

1987

Wolf von Niebelschütz war einer der ersten Suhrkamp-Autoren der Nachkriegszeit. Im Nachlass des deutschen Schriftstellers, Lyrikers und Redakteurs fand sich Lyrik, die sich von allem unterschied, was er bislang geschrieben hatte. Auch ich in Arkadien. Respektlose Epistel an die Freunde ist der Bericht einer Italien-Reise, die der Autor im Oktober 1952 unternommen hat. Sie führte ihn auch in die Ostschweiz und über den Nebel. Postum erschienen.

Ich schreib Euch alles dies, vielliebe Freunde,
Zwei Jahr nachdems gewesen, einmal weil Ihr
Bericht erwartet, und zum Andern dann,
Weil mich seither das Schicksal feindlich hindert,
Der Fiskus tuts, der Fiskus ist auch Schicksal.
Da schafft Erinnerung mir denn Ersatz,
Recht mageren, und Euch den Abglanz, hoff ich.
[…]
Die lieben Schweizer, gastfrei wie die Griechen,
Entführten uns aus tagelangem Nebel
In höchst kommoder Limousine bergwärts,
Vom Zürichsee in Richtung Säntis-Seilbahn,
Bis wir bei mehr als dreizehnhundert Metern,
Umstellt von übergrasten Felsentrümmern,
Parkieren mussten, wie die Schweizer sagen.
Ein mächtig Holzhaus, lagernd mit Terrassen,
Das Dach umhüllt vom dicken Wolkensitzfleisch,
Verschluckte vorne uns, indessen seitlich,
Metallverstrebt ein Glaskorb ihm ins Maul fuhr,
An Trossen schwebend, die ein Riesenstelzfuss,
Dreihundert Schritt hinauf, ihm niederreichte –
Zu ahnen nur, man sah den Stelz zum Viertel,
Und auch die Trossen endeten in Watte,
Ganz einfach schräg in Luft, die keine Luft war:
Ein schiefes Wort, sie hätte hemmungslos
Geweint, geweint, geweint … Ums Haar sprach ich
Das Wort, ein Schild verkennend an der Tür,
Ein Schild mit Aufschrift «Säntis hell!», ich hielt es
Für Bier-Reklame trotz des Ausrufzeichens,
Verständlich, da ich aus dem Rheinland komme.
Da aber hingen wir bereits im Nichts,
Im Bodenlosen, glasumpfercht, wattiert:
Ein Felstrumm unten wackelte vorbei,
Es hangelte der Korb am Gittermastwerk
Mit seiner stummen Menschenfracht sich höher,
Vom Grau umbrodelt – ach, ein schwärzlich Grau,
Ruhrsuppe nennt mans hier, wir schauten traurig
Gemüthaft und bedrückt in Partners Augen,
Vom Russ aus Schloten bis ins Hochgebirge
Eklig verfolgt – da überfällt ein Lustschreck
Die Augen, die nicht wissen, was sie sollen,
Weiss wird das Nichts, von tausend Enden rieselt,
Von oben, unten, links und rechts das Licht,
Gespeist von überall, in unser Glashaus,
Die Lider schmerzen, schliessen sich, mit Macht
Muss man sie öffnen, schau: ein Ockerschleier
Schwebt an der steigenden Kabine nieder,
Was war das? mattes Grüngrau, Gras? vorbei,
Ein Stückchen Felshang, Nebelfetzen lecken
Um nackten Stein, und unartikuliert,
Halb Schrei, halb Röcheln, seufzt ein wilder Schluchzer
Zugleich durch fünfzig menschliche Organe,
Ein zieres Händchen kraut sich mir in Ärmel,
Und nach Sekunden erst begreift man: Sonne!
Die Sonne hat uns wieder, Sonne gibt es
Noch auf der Welt! und was für warme Sonne!
Hier oben war sie, schien da ganz allein
So vor sich hin, für sich und für den Säntis
Und jetzt für uns, die wir gelandet waren,
Uns kletternd auf dem Gipfel zu verstreun –
Darunter eine frisch getraute Braut,
Der Myrtenkranz, der Kranz der Hochzeitsgäste,
Der Bräutigam in Toggenburger Tracht,
Ein dralles Mädchen aber, dunklen Haares,
Gab bis nach Österreich den point de vue,
Den Paukenschlag aus sieben Metern Seide:
Fusslang nach Grün changierend kardinalsrot!
Und rings umher das schönste Panorama:
Nur Gipfel, Gardemass Zwei Komma Eins,
Ein Kameradschafts-Treffen der Elite,
Die Crème der Schweiz, die Schweiz als idée pure –
Nahbei die sieben rötlichen Churfirsten,
Schräg aus dem Nichts gestemmte Mammutschultern,
Vor ihnen Watte, hinter ihnen Watte,
Die Glarner Alpen, der Pilatus, Tödi,
Scheinbar zum Greifen nah die Blümlisalp […].
Dann klein, weil fern, die heitere Familie
Von Finsteraarhorn, Schreckhorn, Wetterhorn,
Leutselig, wie uns däuchte, nicht sehr finster,
Der Mönch zwar keusch, die Jungfrau aber nah, –
Kein Tal, kein See zu sehn, kein Fluss, kein Dörfchen,
Nicht Stadt noch Strasse, Auto, Eisenbahn,
Der Mensch als Wesen und als Republik
Von strahlend weisser Wohltat so bepackt,
Dass wir vergassen, dass, zur Höhe freundlich,
Die gleichen Sahne-Baisers unterwärts
Mit Nebelgrau und Nieselregen trostlos
Als wahre Obrigkeit die Welt behocken.
Mit einem Wort, wir fühlten uns genötigt,
Dem Wilhelm-Busch-Zitat zu widersprechen:
Die Welt ist gross, besonders oben? Nonsens!
Der niedre Flächenmensch, er kennt sie nicht!
Klein ist sie, schrumpfig, völlig spielzeughaft,
Weil halt (zum Glück) die menschlichen Vergleiche,
Luzern und Bern, der Appenzeller Bote,
Gasthäuser, Bodensee und Drahtseil fehlen.
Stattdessen lag Italien uns zu Füssen,
So meinten wir, dort hinten irgendwo,
Wir hättens greifen, nur dem Bristenstock
Kurz um die Taille fassen, nur die Wolken
Ein wenig lupfen müssen, und wir hatten,
Wonach uns tief im Busen dürstete!
Nein: gross und endlos wurde alles erst,
Als wir in komfortabler Limousine
Durch leisen Fisselregen heimwärts rollten.
Der Abend weinte sich in Nacht und Schlaf,
Die Reifen sangen auf dem spiegelnden,
In Kurven hingeschlängelten Asphalt,
Erleuchtet blinkten hie und da an Hängen
Noch Fenster, und ein später Schnellzug reiste
Als Glühwurmkette in den Tunnelschlund:
Wie weit allein von Rapperswil nach Stäfa,
Vom Säntis nach Arkadien, ach, wie weit!


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 349–351.

Erstpublikation: Wolf von Niebelschütz: Auch ich in Arkadien. Respektlose Epistel an die Freunde. Zürich: Haffmans Verlag, 1987. S. 9, 11–13.