Literaturland


Arnold Oertle

Waldvogels Entwurf

2016

Waldvogels Entwurf ist die «Volksfassung» von Pfarrer Arnold Oertles neunbändigem Lebenswerk, dessen Hauptthema – «eine grosse Leitidee für uns Menschen» – er als «Leben im Nichtdualen» umschreibt. Im Folgenden zwei Auszüge aus der «Volksfassung».

Der Mensch ist mit Verschiedenem verglichen worden: Der Mensch – ein animal rationale – also der Vergleich mit dem Tier. – Oder auch der Vergleich des Menschen mit einer Pflanze – beides Lebewesen: «Die Ros’ ist ohn warumb / sie blühet weil sie blühet / Sie achtt nicht jhrer selbst / fragt nicht ob man sie sihet.» (Angelus Silesius)

Der Mystiker will wohl sagen: Die Rose, die Blume überhaupt, ist ego-los, und darum fragt sie nicht danach, ob man sie sehe – anders als die meisten Menschen: Hier gilt oft genug Sehen und Gesehen-Werden – die Tendenz zur Selbstdarstellung des Menschen.

Und das Phänomen der Wolke? Wolken sind Himmelserscheinungen, die dem Menschen ebenfalls ähnlich sein können: Sie entstehen aufgrund gewisser Bedingungen. Sie sind eine Zeitlang da; und sie verändern sich in dieser Zeit ständig mehr oder weniger stark. Und dann vergehen sie wieder, dann lösen sie sich wieder auf. Bei Wolken zu sagen, sie hätten eine Seele, drängt sich nicht auf, anders bei Blumen und vor allem bei höheren Tieren.

Wolken sind ego- und geist- und seelen-los. Insofern gleichen sie jenem Binggeli in Robert Walsers ‹Märchen› Einer, der nichts merkte.

[…]

Ganz gedanken-los und leer war er.

Nicht dass Binggeli meditiert hätte, ausser man würde seine Art zu leben als meditativ ansehen. (Eine spezielle Meditation brauchte Binggeli nicht mehr.) Er war «einer, der nichts merkte», nichts mehr be-merkte. Die inneren Tätigkeiten des Ichs waren bei ihm auf ein Minimum reduziert. Ja, bei Walser heisst es sogar: «Wie er eines schönen Tages so seines Weges ging, fiel ihm der Kopf ab. Der musste wohl nicht fest genug auf seinem Halse gesessen sein, dass er so mir nichts, dir nichts herunterfallen konnte. Binggeli merkte nicht, dass er keinen Kopf mehr hatte; kopf-los ging er weiter, bis ihm jemand sagte: ‹Ihnen fehlt ja der Kopf, Herr Binggeli.› Aber Herr Binggeli konnte nicht hören, was ihm der andere sagte, denn da der Kopf abgefallen war, hatte er auch keine Ohren mehr. Da fühlte nun Herr Binggeli rein gar nichts mehr, roch, schmeckte, hörte, sah nichts und merkte nichts …»

Ja, dieser Binggeli war ein gedanken-loser, ein geist-loser und acht-loser Mensch geworden und gerade so ein leid-loser Mensch.

Ich denke: Er war auch ziemlich gefühl-los und vor allem willen-los und auch gewissen-los. Er wollte nichts sein und nichts haben, und wenn er etwas verlor oder vergass, so merkte er es nicht; ja es war ihm sozusagen schnuppe: «Einmal verlor er sein ganzes Vermögen, aber er spürte es nicht, merkte es nicht. Es tat ihm auch gar nicht weh, denn wer nichts merkt, dem tut auch nichts weh.»

Schlussbemerkung: Für mich ist Binggelis Lebensart eine surreale Metapher, ein surreales Gleichnis für ein Leben im NICHTDUALEN.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 496–497.

Erstpublikation: Arnold Oertle: Waldvogels Entwurf. «Jenseits von Gut und Böse». Typoskript. Muggio, 2016. S. 53–54, 327.