Literaturland


Klärli Pfister-Etter

Warum Weber?

2003

Die Erinnerungen der 1910 geborenen Verfasserin u. a. an die Textil-Heimindustrie ihrer Jugendzeit in Speicher haben laut Herausgeber Hansuli Zuberbühler-Tobler «einen wunderbaren heimatlichen Klang, der durch die spezielle Satzgestaltung entstanden» sei.

Wie kam Vater zu diesem Beruf? Seine Eltern betrieben eine kleine Landwirtschaft im schönen Appenzellerland. Von ihrem Heimet in der ‹Blatte› konnten sie das Dorf Speicher überschauen. Sein Vater und Mutter Etter werkten daneben noch fleissig an ihren Webstühlen im Keller unten, um ihre Familie mit sechs Kindern durchzubringen. Die Kinder mussten schon früh mithelfen. Ihre Arbeit war, Sand zu verkaufen. Zuerst mussten sie im Goldachtobel unten die Sandsteine suchen und heimbringen, dann ganz fein zerkleinern und in Säcklein abfüllen. […]

Am Samstag wurde jeweils der tannene Stubenboden damit bestreut, am nächsten Samstag dann alles zusammengewischt und wieder frisch gesandet. Das war die damalige Bodenpflege! Die kleinen Kinder, die noch nicht ­gehen konnten, sind dann eben im Sand herumgerutscht. Ein Stücklein Leinenstoff, in dem eine Brotrinde eingewickelt war, das war dann ihr Nuggi (1), den sie oft auf dem Boden verloren und voller Sand wieder in den Mund steckten. Diejenigen, die dies überstanden haben, sind achtzig oder gar neunzig Jahre alt geworden.

Mein Vater, der damals noch nicht in die Schule ging, und ein älterer Bruder mussten mit diesen Sandsäcklein auf dem Handwägeli (2) hausieren gehen. Bis nach Trogen, Wald und St. Georgen. Vater sagte später immer, beim Hausieren habe er die Menschen kennengelernt. Wenn er gefragt wurde, wo er auch all seine Kenntnisse erworben habe, antwortete er, er sei beim Sand-Hausieren jede Woche einmal bei der Kantonsschule in Trogen vorbeigekommen und das habe bei ihm mächtig angeschlagen.

Natürlich wurde er auch vom Spulen nicht verschont. Etwa mit zwölf Jahren kam dann das Webenlernen dran. Dann erst waren die Beine lang genug, um das Trittbrett zu erreichen. Waren sie noch zu kurz, wurde einfach ein Stück Holz auf den Schemel genagelt.

Einen halben Tag in die Schule. Die andere Zeit in den Webkeller. Lehrmeister war sein Vater. War die Schulzeit vorbei, ja dann halt den ganzen Tag in den Keller. Als dann die Burschen so gegen Zwanzig rückten, rebellierten sie, denn sie wollten auch einmal etwas anderes sehen als nur die vier Kellerwände.

Schwierig war es nur, vom Fabrikanten loszukommen. In vielen Fällen hatte er noch die berühmten Appenzeller Zedel (3) auf dem Weberhöckli und rechnete damit, die ganze Weber-Nachkommenschaft als seine Arbeiter zu bekommen. Da brauchte es schon ein wenig List, um wegzukommen. Ein Bruder hatte die Sache so gelöst: Er hat einfach lauter Fehler und Nester gewoben. Da hat der Fabrikant gesagt: «Dich kann ich nicht brauchen, aus dir gibt es im ganzen Leben keinen guten Weber.» Das wollte Hans ja eben. Der Keller kam ihm wie ein Gefängnis vor. Er wollte Landwirt werden. Auch mein Vater wollte ein Stück Welt sehen. Aber deshalb einen Pfusch weben, das konnte er nicht. Er dachte sich darum etwas anderes aus. Sein Webmaterial war rohes Garn und musste deshalb nachher noch gebleicht werden. Darum gaben Bleistiftstriche keinen Schaden für den Fabrikanten.

Nebst rechnen konnte Vater auch gut zeichnen und griff darum zu diesem Mittel. Immer wenn er ein Stück gewoben hatte, zeichnete er eine Figur auf den Stoff, so waren in diesem Ballen Stoff ganz verstreut lauter Tiere eingezeichnet. […]

Wie freute sich Vater auf den Gang zum Fabrikanten. Das war ein kleines, mageres, aufgeregtes Mandli. Und wie tat der, als er die Arbeit kontrollierte: «Hier ist ja eine Kuh, … und hier eine Geiss … und da ein Pferd … und … und … und da ein Huhn.» Dann sagte es: «Geh nur, dich will ich nie mehr wiedersehen. In meinem ganzen Leben hat noch nie ein Weber solche Sachen auf den Stoff gezeichnet. Bei einem, der solche Sachen macht, weiss man nie, was noch kommt.» Dann warf er Vater seinen Lohn zu und sagte: «Geh … geh.»

Vater sagte zu Hause, er werde eine Stelle als Knecht suchen. Seine Eltern sorgten sich, was wohl der Fabrikant dazu sagen werde. «Der ist einverstanden», antwortete Vater. «Erzähl …», wollten sie wissen, «wie hast du das angestellt?» Das musste man ihm nicht zweimal sagen. Gerühmt wurde er nicht, aber so auf den Stockzähnen hat sein Vater doch gelacht.

So ging Vater ein wenig später als Knecht in den Kanton Zürich. Doch dann kam das bittere Heimweh. Wie hat er doch darunter gelitten, es war ja alles so anders als in seinem Appenzellerdorf. Als dann sein Vater starb und seine Mutter ihn anhielt, er solle doch heimkommen und an Vaters Stelle für seinen erst zehnjährigen Bruder sorgen, da war er geradezu froh, einen Grund zu haben, um heimzukommen. So sehr hat er seine Heimat geliebt.

Eigentlich wäre er gerne Spengler geworden. Doch ging das nicht, weil er nicht schwindelfrei war. Darum wurde er Weber und blieb es. Nur hat er dann den Fabrikanten gewechselt.

(1) Nuggi Lutscher
(2) Handwägeli Leiterwagen
(3) Appenzeller Zedel Schuldverschreibung auf Häuser ohne Kündigungsrecht von Seiten des Gläubigers


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 249–250.

Erstpublikation: Klärli Pfister-Etter: Das Weberhaus. Appenzeller Geschichten. Hrsg. von Hansuli Zuberbühler. Rehetobel, 2003. S. 26–28.