Literaturland


Elisabeth Pletscher

Das ‹falsche› Gebet

2005

Nach dem zweiten Schultag, das hat meine Mutter uns später immer wieder erzählt, sei ich voller Freude nach Hause gekommen: «Maman, Maman, à l’école on fait la prière!»

Fräulein Schlatter hatte die Klasse gefragt, wer denn schon beten könne. Zwei der Kinder, die zuhause mit älteren Geschwistern aufwuchsen, hatten aufgestreckt. Offenbar sprach man in der Schule immer dasselbe Gebet – und so durften diese beiden an diesem Morgen beten.

«Je veux aussi faire la prière», sagte ich zu meiner Mutter.

Sie riet mir, gut zuzuhören und mich dann zu melden, wenn ich das Gebet auf diese Weise gelernt hätte.

Zehn Tage später sei ich nach Hause gekommen: «Maman, demain, moi je fais la prière!», hätte ich verkündet. Ich solle, meinte sie, das Gebet – sozusagen zur Sicherheit – einmal ihr vorsagen. Sie hat dann das, was ich da gebetet habe, aufgeschrieben. Das Zettelchen existiert immer noch, und deshalb ist dieses ‹Gebet› erhalten geblieben:

Lieber Gott
So auf und nieder
Schürz und schirm die herz’ge Wiiber
Links und rechts die Himmels-Anne
Dass er täglich Ziegen fange
Amen

«Aber, aber, Kind», sagte daraufhin meine Mutter, «das ist aber sicher nicht richtig. Ausser Lieber Gott und Amen stimmt gar nichts.» Ich hätte jedoch genau dasselbe nochmals aufgesagt.

«Mais ce n’est pas possible», schüttelte meine Mutter den Kopf.

«Aber es isch eso!», beharrte ich. Ich bin beinahe in Tränen ausgebrochen, weil sie mir nicht glauben wollte. Schliesslich entschied sich meine Mutter, am nächsten Tag mit mir in die Schule zu kommen, um der Sache auf den Grund zu sehen.

Auf dem Schulweg riefen andere Kinder schon von weitem meiner Mutter zu: «Heute tut d’Lisabeth bäte, sie kann es!» Das bedeutete nichts anderes, als dass die andern das Gebet auch nicht wirklich verstanden hatten. Tonfall und Rhythmus waren zwar richtig, aber das allein ergab keinen Sinn. Wir Appenzeller Kinder hatten noch nie Hochdeutsch gehört, alle sprachen Dialekt miteinander. In den Haushalten gab es kein Radio, und so war Hochdeutsch wirklich eine Fremdsprache für uns.

Fräulein Schlatter erkannte anhand dieser Geschichte, dass es nichts bringt, die Kinder auf Hochdeutsch beten zu lassen. Wir liebten es, hatten aber kein Wort davon verstanden. Das Beten in der Schule wurde jedenfalls noch im selben Jahr abgeschafft. Das Gebet lautete nämlich:

Lieber Gott
Sieh auf uns nieder
Schütz und schirm uns heute wieder
Schenk den rechten Sinn uns allen
Dass wir täglich Dir gefallen
Amen


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 133–134.

Erstpublikation: Elisabeth Pletscher: Das ‹falsche› Gebet. In: Hanspeter Strebel und Kathrin Barbara Zatti (Hrsg.): «Es gibt Dinge, die brauchen Zeit». Elisabeth Pletscher, Zeitzeugin des 20. Jahrhunderts. Herisau: Appenzeller Verlag, 2005. S. 50–51.