Literaturland


Peter Rechsteiner

Die Midlife-Crisis

2002

An einem sonnigen Samstagnachmittag entschliesst sich der nicht mehr ganz junge Erzähler zu einem «Märschchen», fährt nach Gais und wandert auf den Gäbris

Der Untere Gäbris war offen. Die beiden Tische vor dem Haus waren gut besetzt und es hatte sich eine fröhliche Runde versammelt. Sie bestand aus einem halben Dutzend Rentnerinnen und Rentnern, deren Pensionierungstag schon einige Jahre zurücklag. Vor ihnen standen ein paar leere Weinflaschen. Mittlerweile nippten sie an Kaffee, dessen Durchsichtigkeit leicht auf den Inhalt schliessen liess. Und wie es sich für angetrunkene Wanderer gehörte, sangen sie, mehr laut als schön, fröhliche Lieder. Die Leute hatten es ausgesprochen lustig. Ich setzte mich zu ihnen und versuchte, mit einem Bergkaffee (Inhalt unbekannt, aber sehr wohlschmeckend und meinem Arzt vermutlich ein Dorn im Auge) auf ihr Fröhlichkeitsniveau oder zumindest ihren Alkoholpegel zu gelangen. Auf das Singen verzichtete ich, denn ich wollte es nicht von Anfang an mit ihnen verderben.

Nach zwei weiteren Liedern verabschiedete sich ein dürres Männchen. Er trug ein dünnes Leibchen und allzu kurze Hosen und joggte fröhlich lachend Richtung Suruggen davon. Meiner Bewunderung war er sicher, denn ich kannte die Strapazen des Joggings. Ich fragte mich, wo der Kerl hinrennen würde. Keines der umliegenden Dörfer lag an dieser Strecke. Aber nicht nur die Distanz gab mir zu denken, ich fragte mich auch, ob er überhaupt den Weg finden würde nach all dem Weingenuss. Aber weshalb machte ich mir Gedanken? Ein jeder musste ja selber wissen, wie er seine Gesundheit forderte (oder ruinierte).

Kurz nach dem Jogger stand auch der Rest der Gruppe scherzend und lachend auf und war plötzlich verschwunden. Dies ging derart schnell, dass ich mich fragte, ob der Bergkaffee meine Sinne getrübt hatte. Auf jeden Fall hatte ich nicht bemerkt, in welche Richtung sie losmarschiert waren. Obwohl ich mich gut amüsiert hatte, genoss ich die Ruhe, die jetzt auf dem Unteren Gäbris eingekehrt war.

Ich liess ein paar Minuten verstreichen, denn ich wollte nicht zufällig diesen beduselten Senioren noch einmal begegnen und mit ihnen mitwandern müssen.

Schliesslich machte auch ich mich auf den Weg und marschierte zügig Richtung Wissegg, um über die Hohe Buche ins Bendlehn zu gelangen. Von dort wollte ich mit der Trogenerbahn nach St. Gallen fahren. Ein leichter Weg, wenn man den fast unsichtbaren Kuhdrähten und den nur zu gut sicht- und hörbaren Appenzeller Blässen auszuweichen versteht. Da ich im Bendlehn nur wenige Minuten auf die Bahn warten musste und mich nach kurzer Fahrt in die heimische Badewanne setzen konnte, hätte ich meinen kleinen Ausflug alles in allem als ziemlich gelungen abbuchen können. Aber eben nur ‹hätte›.

Als ich nämlich zufrieden, aber müde auf dem Bänklein der Haltestelle sass, joggte plötzlich ein dünnes Etwas der Strasse von Trogen Richtung Speicher entlang. Ein genaues Hinschauen bestätigte meine Vermutung: Es war das dürre Männchen in den knappen Turnhosen, das ich im Unteren Gäbris gesehen hatte. Der Kerl hüpfte leichtfüssig und immer noch mit einem Lachen auf den Lippen an mir vorbei. Ja, er besass sogar noch die Frechheit, mir zu winken. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Dieser Mann joggte, in seinem Alter, mit Wein und vermutlich auch viel Bergkaffee im Körper in dieser kurzen Zeit via Suruggen nach Trogen bis ins Bendlehn und weiter. Dabei war er noch fähig, mir fröhlich zuzuwinken, während ich müde und schlaff auf der Bank der Haltestelle hing.

Meine permanente Müdigkeit war mir schon seit einiger Zeit ein Dorn im Auge. Es gelang mir aber immer wieder, der Arbeit oder ähnlichen Widerwärtigkeiten die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Dass es am Alter liegen könnte, hatte ich mir bis dahin nicht eingestehen wollen. Und nun dies, joggte dieser Typ frisch-fröhlich an mir vorbei, ja, ich konnte in seinem Gesicht die Schadenfreude über meine Erschöpfung ablesen. Er schien weder müde zu sein noch sonst von Strapazen gezeichnet, während mich nur die Aussicht auf ein warmes Bad auf den Beinen hielt.

Im Zug nach St. Gallen rätselte ich, welchen Weg und welche Abkürzung der Jogger wohl genommen haben mochte. Ich kannte aber keine Möglichkeit, die Strecke merklich zu verkürzen, als den Weg, den ich gegangen war. Der Weg über die Landmarch war auf jeden Fall um einiges weiter. Klar, er war gejoggt, aber ich war ja auch nicht gekrochen. Liess ich jetzt auch schon beim Marschieren nach? Diese Einsicht verstärkte meine Niedergeschlagenheit ob seiner Fitness und meiner Schlappheit noch beträchtlich.

Als ich in der Notkersegg, einer Haltestelle oberhalb von St. Gallen, zusehen musste, wie der Rest der Seniorengruppe in die Trogenerbahn einstieg, schluckte ich leer. Ich verstand die Welt nicht mehr. Wo zum Teufel kamen denn sie nun her? Soeben hatten sie doch auf dem Unteren Gäbris noch gesungen, gescherzt und Unmengen von Wein in sich hineingeschüttet. Mit Sicherheit beduselt, waren sie höchstens eine halbe Stunde vor mir losmarschiert. Und nun stiegen sie hier in der Notkersegg in die Bahn – immer noch lachend. Fehlte nur noch, dass sie weitere Lieder anstimmten.

Ich bin wirklich nicht mehr der Jüngste, war aber sicher immer noch um einiges jünger als sie. Ich war zügig marschiert und deshalb auch hundemüde. Jetzt lief ich ihnen hier wieder in die Arme, und zu allem Elend hatten sie mich auch noch in der Bahn entdeckt. Ganz sicher galt ihr Lachen mir, aus Schadenfreude über mein müdes Aussehen.

Es wird mir wohl niemand übel nehmen, dass ich mit der Welt zu hadern begann. Ist sie das, fragte ich mich, die Midlife-Crisis? Zu alt und zu müde, um anständige Bergtouren zu unternehmen, aber auch zu jung, um mit den Senioren noch mitzuhalten?


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 52–54.

Erstpublikation: Peter Rechsteiner: Schepeneses Flucht aus der Stiftsbibliothek. Herisau: Appenzeller Verlag, 2002. S. 46–50.