Literaturland


Urs Richle

Das Loch in der Decke der Stube

1992

Von Berlin aus blickt Paul Zoll, der Ich-Erzähler des Romans, auf seine Zeit in Gais zurück: im folgenden Ausschnitt zunächst auf seine Ankunft, dann aber auch auf die Ereignisse, die zu seiner fluchtartigen Abreise führten.

Als ich in den ersten Tagen über den Dorfplatz schlenderte und beim Rondell des kalksteinweissen Dorfbrunnens stehenblieb, betrachtete ich in interessierter Touristenmanier ahnungslos das ganze Panorama alter landherrschaftlicher Häuser. Vom Hotel ‹Sternen› über das kleine Café ‹Abderhalden› zum Res­taurant ‹Toggenburg›, daneben die gerade neu ausgebaute kleine ‹Mi­gros› mit Selbstbedienungsrestaurant und Hifi-Abteilung, dann die evange­lische Kirche mit Kiesplatz, gefolgt von der Confiserie und Café ‹Amstutz›, der ‹Kantonalbank› und der ‹Schweizerischen Bank Gesellschaft›, ebenfalls gerade frisch renoviert mit museumsreif restaurierter Aussenfassade und postmodernem Giebeldach- und Simsen-Miniportal.

Wäre da nicht die breite Strasse, die mit ihren weissen Mittellinienstrichen das Dorf durchschneidet wie ein Messer einen Apfel, hätte ich mich wie in einen Kessel von sich aneinanderreihenden Fensterfeldern gesperrt gefühlt. Nicht immer auf derselben Höhe, aber sich dennoch aneinander anschliessend, ziehen sich die Fensterreihen von Haus zu Haus. Alle im gleichen Format, in gleicher Aufteilung, in den beinah gleichen Vorhangstoffen. Ich stand da und folgte einem dieser Fensterbänder im zweiten oder dritten Stock, folgte ihm so lange, bis ich mich auf dem Brunnenrondell einmal um mich selbst gedreht hatte, begann noch einmal in einem anderen Stockwerk und stellte fest, dass auch dieses ein geschlossenes Band war.

Früher oder später wird jeden Besucher und jede Besucherin der Gedanke überfallen, dass diese Häuserfassade nicht bloss eine Fassade ist, diese Vorhänge nicht bloss Vorhänge, dass dahinter Zimmer existieren, Menschen leben, sich Augen verbergen könnten. Etwas erschreckt musste ich feststellen, zumal ich kein Tourist war, dass ich nicht wissen konnte, aus welchem Fenster diese Augen mich gerade erspähen würden. Es konnte jedes sein, es konnte auch keines sein. Je länger ich schliesslich an diesem Brunnen ausharrte und mich immer wieder um ihn herumbewegte, um nicht ständig dem möglichen Blick aus einem der Fenster ausgesetzt zu sein, um so mehr stellte ich fest, dass mir dieser Brunnen, so schön und friedlich er auch gestaltet sein mochte, keinen Schutz vor Beobachtern, keine Deckung vor den Einheimischen bot.

Plötzlich war ich froh um die platte, breite Teerstrasse, die sich wie ein Walross durch das spielzeughafte Bild dieses Platzes wälzt, auf der man sich verflüchtigen kann, um nicht eines der Gässchen zwischen den einzelnen Häusern zu nehmen, von denen man nicht weiss, wohin sie führen!

Und wenn ich mich nicht in diese Angelegenheiten eingemischt hätte?
Wäre etwas zu verhindern gewesen?
Kaffee ist in Deutschland teurer, denke ich, während ich ihn koche, um mir nicht antworten zu müssen.

Eine Autobahn gibt es weder im Toggenburg, noch im Appenzellischen.
Aber eine Sterberate wie überall.
Davon mehr als 10% Selbstmorde.

Es war im April, als ich bei Emil einzog, und noch keine Zeit, um Vorfenster wegzunehmen. Trotzdem war die Rede davon. In der Gärtnerei zum Beispiel.
Wir waren fünf.
Zwei Jugoslawen, Hilfsarbeiter wie ich, eine ausgebildete Gärtnerin, ein Lehrling und ich.
Der sechste war der Chef.
Beinah zwei Wochen lang wusste ich nicht, wer dieser Chef eigentlich war. Aber wenn über ihn geredet wurde, spürte ich am veränderten Tonfall und einigen Bemerkungen, dass ihn alle fürchteten.
Am zweiten Tag erfuhr ich von Irene, der Gärtnerin, dass unser Chef meinem Arzt, der sich bei ihm nach einer Arbeit erkundigt hatte, auch das Zimmer bei Emil verschafft hatte.
Er sei dessen Bruder.
Mehr gab es vorerst nicht über ihn zu erfahren. Wir hatten unsere Arbeit, das sollte reichen, meinten Josip und Draža, die beiden Jugoslawen.
Vorfenster gebe es an jedem Haus in dieser Gegend. Und wenn die einmal weg seien, dann würde der Laden hier erst richtig losgehen! Das machte mir Marco, der gerade vor drei Wochen seine Lehre begonnen hatte, in den ersten Tagen klar.
Dann heisst es Rennen!
Und sonntags auch arbeiten, abwechselnd.
Blumen brauchen nicht nur von Montag bis Freitag Wasser.

Dass Berlin auch grün ist im Sommer, hätte damals selbst ich nicht geglaubt.
Überhaupt Grün.
Es sei das einzigartigste und einzigste Grün, welches man hier oben auf der Hochebene, an deren Seitenhang auch Emils Haus steht, sehen könne. Vor allem im Mai, behauptet man im April, vor allem im September, im Mai.
Und speziell, natürlich.
Als gäbe es nur hier Gras, Haselstauden, milchige Birken, Froschtümpel, Regengüsse, als falle das Laub im Herbst nur von den gemeindeeigenen Bäumen.
Schon nach meinem ersten Arbeitstag in der Gärtnerei war ich nicht allein auf der Heimfahrt in der Bahn, die uns auf den Stutz, die Hochebene, welche zugleich auch Passhöhe des Tales war, nach Hause brachte.
Eine grosse Frau sass fest in der Holzbank und begrüsste mich prompt mit: Guten Tag, Herr Zoll!, und lud mich ein, bei ihr Platz zu nehmen, bevor ich eine Bewegung in irgendeine andere Richtung hätte machen können.
Auch von anderer Seite wissendes Nicken und Begrüssen von Leuten, die ich noch immer nicht kannte.
Ob mir die Arbeit gefalle in der Gärtnerei. Sie komme auch von der Arbeit. Sie sei Pflegerin im Spital. Ein alter Beruf, sagt sie. Natürlich kenne sie Emil Blauer.
Sie habe mich beobachtet, als ich angekommen sei. Sie wohne nicht weit von Emil entfernt. Unten an der Strasse gleich bei der Haltestelle. Da sehe man halt, was sich tue. Nicht dass es sie interessiere, aber man sehe es halt.
Und mit Emil?
Na ja, man wisse ja.
Aber ungefährlich, meinte sie.
Man frage sich nur, wo die Flaschen alle bleiben. Aber es gehe sie ja nichts an.
Nur wenn sie Emil jeweils sehe, wie er bei der Haltestelle am Stutz aussteige und sich das kleine Stück den Hang hoch zu seinem Haus kämpfe, könnte er ihr leid tun.
Ich würde ihm sicher eine Hilfe sein, das könne sie sich vorstellen, ein so junger, frischer Bursche!
Dann beugte sie sich vor und winkte mit dem Zeigefinger. Die Bewegung wurde heftiger, und ich wusste nicht recht, was sie damit meinte, bis sie die Hand an ihren Mund hielt und zu flüstern begann. Ich kann mich nicht erinnern, was sie mir zuflüsterte, vielleicht hatte ich es auch nicht verstanden. Jedenfalls bewegte sich ihr grosser fleischiger Mund und gab kaum hörbare Töne von sich. Darauf nahm sie die Hand wieder weg und schaute sich um. Zu Recht, wie ich bemerkte. Man beobachtete uns.
Und nicht nur: Man beobachtete, wie man uns beobachtete.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 46–48.

Erstpublikation: Urs Richle: Das Loch in der Decke der Stube. Roman. Berlin: Verlag Mathias Gatza, 1992. S. 22–26.