Literaturland


Viola Rohner

Alles Gute und auf Wiedersehen

2014

Lora, der die Ich-Erzählerin im nachstehenden Auszug aus Viola Rohners zweitem Roman zum ersten Mal begegnet, kommt aus einem 
Schweizer Bergdorf in das geteilte Berlin vor der Wende. Zu ihrer WG-Mitbewohnerin Mara entwickelt sich eine Liebesbeziehung.

Ich begegnete Lora zum ersten Mal im Sommer 1987. Sie wollte in Berlin studieren und kam vor Semesterbeginn direkt aus der Schweiz angereist. Ich war damals die Einzige in unserer Wohngemeinschaft, die an diesem Spätnachmittag zu Hause war, als Lora klingelte.

Widerwillig klappte ich mein Buch zu und stieg unsere vier Treppen nach unten und schloss die Haustür auf. Vor mir stand eine junge Frau mit kurzen, blonden Haaren, neben sich einen riesigen dunkelroten Koffer. Ich wunderte mich, wie sie diesen Koffer allein bis hierher geschleppt hatte, denn sie war, obwohl kräftig gebaut, recht klein. Sie gab mir artig ihre Hand und sagte, dass sie Lora sei, Lora aus der Schweiz. Leo habe ihr unsere Adresse gegeben. Sie habe vor ein paar Wochen angerufen wegen des Zimmers.

Ich nickte nur, trat einen Schritt beiseite und bat die Frau herein.

Der Koffer war so schwer, dass wir ihn zu zweit in die Wohnung hochtragen mussten. Ich hinten, sie vorne. Und auf jeder Etage entschuldigte sie sich, dass der Koffer so schwer sei und dass sie mich genötigt habe, ihr zu helfen. Es war für mich seltsam, dieses Entschuldigen. Es klang wie aus einer weit entfernten Welt. Die Welt meiner Kindheit, die Welt der Kleinstadt, die ich hinter mir gelassen hatte, als ich hierher nach Berlin gezogen war. Und ich erinnere mich, dass ich mich beinahe dafür schämte, wie sehr ich diese höfliche Art mochte und den angenehmen Klang dieser leisen, etwas singenden Stimme. Hier in Berlin hatte ich gelernt, dass man sich nehmen musste, was man brauchte, und sich bei niemandem dafür bedankte. Höflichkeit war etwas, das aus der Provinz kam. Und für Leute wie mich, die nach Berlin gekommen waren, um hier ganz und gar neu anzufangen und die Welt ihrer Kindheit wie eine alte, zu eng gewordene Haut abzustreifen, gab es nichts Schlimmeres als die Provinz.

Als wir oben im vierten Stock angekommen waren und vor unserer Wohnung standen, entschuldigte Lora sich noch einmal, und ich sagte zu ihr: Wüsste gerne, was für eine Schuld wir hier hochgeschleppt haben, so oft, wie du dich entschuldigst.

Das war nicht wirklich ernst gemeint gewesen, nur eine kleine Bemerkung, und ich wollte mich gerade abwenden und die Wohnungstür aufsperren, als ich eine Veränderung in ihrem Ausdruck bemerkte: ein kurzes Erschrecken, eine Zerbrechlichkeit und dahinter Trauer, die für einen Moment auf ihrem Gesicht erschien und mich berührte.

Dann packte Lora den Koffer wieder und ich sperrte auf, und sie stolperte durch unsere Tür. Willkommen zu Hause, rief ich und machte das Licht an, und wir trugen den Koffer zusammen durch den Flur in ihr Zimmer.

Da stand er nun wie ein grosses, rotes Schiff, das auf Rudis schwarzem Teppich gestrandet war und sich keinen Millimeter mehr vorwärtsbewegte.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 121–122.

Erstpublikation: Viola Rohner: Alles Gute und auf Wiedersehen. Roman. Zürich: Rotpunktverlag, 2014. S. 10–12.