Literaturland


Ingeborg Rotach

Säntis – Zweites Leben

2009

In ihrem autobiographischen Buch Säntis – Zweites Leben erzählt Ingeborg Rotach von ihren Ferienaufenthalten als junge Frau auf dem ‹Sitz› in Schwellbrunn, dem Haus ihrer Vorfahren. Die folgenden zwei Episoden schildern die Anfänge der schweizerischen Raumplanung sowie eine Auseinandersetzung ums Frauenstimmrecht.

Andere beliebte Gäste waren natürlich Familien mit Kindern. Das Haus mit seinen Kammern und Kämmerchen und den vielen Schlupfwinkeln war ein herrliches Spielfeld. Oft verkleideten sich die Kinder und führten Scharaden auf oder sie suchten die alten etwas ramponierten Marionetten hervor und improvisierten kleine selbst erdachte Stücke. Gesellschaftsspiele waren beliebt mit langem, fantasievollem Pfandauslösen. Es wurde gewürfelt, gejasst, Puzzles wurden zusammengesetzt und trickreiche Geduldspiele versucht.

Und schliesslich gab es noch Gäste, die keine eigentlichen Gäste waren, sondern Ordner- und Mappenträger aus dem Alltag, aus der Berufswelt. Sie kamen zu Arbeitssitzungen, schwer beladen mit Papieren, Plänen und Büchern, und sahen wenig geländegängig aus. Sie hatten sich wahrscheinlich zuvor den Kopf zerbrochen, wie und in welchem Rahmen man sich solche Sitzungen überhaupt vorzustellen hatte, und waren dann überrascht über deren Formlosigkeit, aber auch über die Länge und Endlosigkeit der Diskussionen.

Es war die erste längere Zeit des Wohlstands und der Vollbeschäftigung. Ein beispielloses Baufieber hatte das Land erfasst. Einheimische und Ausländer rissen sich um die schönsten Plätze an Seen und Flüssen, in Städten und auf dem Lande. Zersiedelung bedrohte die schönen, alten, bedächtig gewachsenen Städte und Dörfer. Die Bodenpreise stiegen in astronomische Höhen.

Neue, gesichtslose Quartiere wucherten ins offne Land hinaus. Sie waren in einem Allerweltsstil gebaut, ohne ersichtlichen Bezug zur Landschaft, ohne System, ohne Planung hochgezogen, aus dem Boden gestampft.

Nach der langen Stagnation der Kriegs- und Nachkriegszeit schien der Hunger nach Erneuerung, nach modernen Wohn-, Erholungs- und Arbeitsräumen unersättlich.

Ganze Landstriche, Wiesen und Felder, die durch Hecken und Baumgruppen fein gegliederte Landschaft, verschwanden, um neuen Wohnsiedlungen, Gewerbebauten, Einkaufszentren, Parkplätzen, Sportanlagen Platz zu machen.

Nebenbei wurde die Landschaft ausgeräumt, aufgeräumt. Hochstämmige Obstbäume, die die Bewirtschaftung der Wiesen behinderten, wurden gefällt, Bäche begradigt oder in den Untergrund verlegt, Feldwege asphaltiert. Das Land verlor seine Eigenart und erhielt ein beliebiges Allerweltsgesicht.

Irgendwie musste versucht werden, diese Überhitzung, diese Entwicklung in geordnete Bahnen zu lenken. Zu viel kostbares Land war schon unwiederbringlich verloren.

Unter dem äusseren Druck entstanden vorerst einmal Pläne und Visionen, wie besonders wertvolle Landschaften geschützt werden könnten, so dass sie auch in Zukunft unantastbar waren. Daneben sollte es verdichtete Zentren geben, gut ausgestattet mit Schulen, Spitälern und Einkaufsmöglichkeiten, erschlossen mit öffentlichem und privatem Verkehr, mit jeder nötigen Infrastruktur.

Das waren die Geburtsstunden der hoch gelobten und viel geschmähten Leitbilder der Schweiz.

Für besorgte Zeitgenossen waren sie eine grosse Hoffnung, Garanten, die Schönheit und Vielfalt des Landes weitgehend erhalten zu können. Für andere hingegen stellten sie Leidbilder dar und bedeuteten Rückschritt, Rückfall in eine überlebte, verabscheuenswerte Planwirtschaft. Angstträume, Schreckensvisionen wurden an die Wand gemalt, die Furcht, den Technokraten ausgeliefert zu sein.

Noch schlimmer als Technokratie und Planwirtschaft war jedoch der befürchtete Verlust eines uralten, verbrieften, teuren Rechts, der Verlust der freien Verfügbarkeit über das Eigentum.

Der Anfang, die sich langsam entwickelnde Idee der Leitbilder, wurde seinerzeit auf dem Sitz ausgebrütet. Die Leitbilder wurden hier oben gedacht, fantasiert, skizziert, erwogen, besprochen, erstritten, diskutiert, erkämpft, verteidigt, erweitert, geändert …, immer wieder geändert.

Die Leute, die hier beisammensassen und sich darüber die Köpfe heissredeten, kamen aus allen Ecken des Landes. Sie waren meist jung, gut ausgebildet, stammten aus den verschiedensten gesellschaftlichen Kreisen und gehörten allen politischen Richtungen an. Freisinnige waren dabei aus der deutschen Schweiz, Liberale aus der Romandie. Natürlich gab es Sozialdemokraten, die radikalere Ideen vertraten als die Leute aus der Zentralschweiz, die dem christlichsozialen Gedankengute nahestanden. Tessiner und Rätoromanen breiteten die Probleme der Zweitwohnungen aus. Idealisten, Freigeister, Naturschützer sassen um den Tisch und wollten ihre Vorstellungen durchbringen. Frauen waren seltsamerweise in dieser ersten Leitbilder-Zeit nicht dabei.

Allen lag gemeinsam eine grosse Idee am Herzen, die Zukunft des schönen Landes.

Politik war in diesem Zeitpunkt noch kein Thema. Ehrgeiz und persönlicher Erfolg auch nicht.

Neid, Streit und Missgunst, die Vorteile und Hemmnisse einer landesweiten Planung, alles, was später die Atmosphäre so erschwerte, Animositäten und Feindschaften weckte, alle diese divergierenden Strömungen gab es noch nicht.

Es ging ja vorerst um eine Vision, und Visionen lassen sich nicht begrenzen, nicht einschränken, haben keine Bodenhaftung, kümmern sich nicht um Machbarkeit. Visionen müssen erst einmal gedacht werden. Sie tragen den Duft der Weite, der Grösse, die Leichtigkeit der Uneingeschränktheit.

Die Planer, die Ingenieure, die Juristen, die Architekten sassen, wenn das Wetter es erlaubte, auf der unebenen, holperigen Wiese unter der duftenden, summenden Linde. Steine beschwerten die Papierberge gegen den Wind. An die Schindelwand des Hauses waren Pläne gepinnt, Landkarten, Skizzen, Ideen und Denksätze, das grosse, noch gänzlich ungeordnete, wahrscheinlich auch unausgegorene Patchwork-Bild einer sich langsam anbahnenden, sich herauskristallisierenden, festsetzenden Idee.

Mit dem weiten grünen Land zu Füssen und der lieblichen, uralten Appenzeller Streusiedlung, begrenzt von Hügeln und dem Säntismassiv, war die Vision von geschützter Landschaft, von haushälterisch genutztem Boden ganz naheliegend. Grosse, zukünftig sich entwickelnde Ideen und Vorhaben konnten an diesen Leitbildern geprüft und erwogen werden.

Schönheit und Eigenart des Landes mussten erhalten und bewahrt bleiben, damit auch den nachfolgenden Generationen ein erfülltes Leben und Arbeiten möglich sein werden.

Es war eine gute Zeit damals.
Deine gute Zeit.
Es war eine Zeit des Aufbruchs, des Höhenflugs, der Ideen, vielleicht auch der Freundschaften.
Man glaubte damals in jugendlichem Gefühl, etwas Sinnvolles zu leisten für die Natur, das Land und seine Bewohner. Man glaubte an Visionen und an deren Machbarkeit. […]

Ich war mit den Kindern allein auf dem Sitz. Ein eisiger Wind tobte ums Häuschen, stiess Schneewolken vor sich her und liess sie plötzlich irgendwo liegen, vor der Haustüre, an den Fenstern oder blies sie zwischen den beiden Häusern zu einem Wall zusammen. Es war kalt und zugig und ungemütlich im Haus, darum beschloss ich, noch einmal einzuheizen. Ich trug Holz und Tannzapfen in die Küche und zündete ein Feuer an. In diesem Augenblick stürzte sich der Wind aufs Dach und drückte beissenden Rauch durch den Kamin in die Küche. Schnell schloss ich die Ofentüre wieder und öffnete das Fenster. Der Wind fuhr herein, wirbelte Rauch und angesengtes Papier und Holzstücke durcheinander und als ich es wagte, die Ofentüre wieder aufzumachen, quoll dicker schwarzer Rauch heraus. Es schien mir ganz unmöglich, bei diesem Wetter, ein Feuer in Gang zu bringen. Als ich jemanden in der Scheune nebenan hämmern hörte, ging ich hinüber, um Hilfe zu holen.

Vetter Jakob liess sofort seine Arbeit liegen und folgte mir. Die schwarze Zipfelmütze hatte er tief ins Gesicht gezogen, seine Augen tränten und Eiskristalle hingen in den Bartstoppeln. Er befreite mit ein paar Schaufelwürfen den zugeschneiten Eingang, klopfte den Schnee von den Kleidern und schlüpfte aus seinen Stiefeln. In der Küche knüllte er ein paar Blätter Zeitungspapier zusammen, zündete sie an und steckte sie in den Ofen, wo das Feuer mit lautem Blaffen den Rauch in den Kamin hinaufsog. Dann baute er vorsichtig mit wenig Papier, feinen, dünnen Ästen und ein paar Tannzapfen ein kleines Feuer, schloss die Luftklappe zur Hälfte, legte immer wieder dünnes, trockenes Holz nach, und bald knisterte und brannte ein gutes, zuverlässiges Feuer, auf das er schliesslich die Hartholzscheite schichten konnte.

«So wird das gemacht», sagte er zufrieden und sah mich mit seinen klugen, hellen Augen wie mir schien spöttisch an, «dabei hilft auch kein Frauenstimmrecht.»

«Nein, zum Heizen ist kein Stimmrecht nötig», sagte ich völlig überrumpelt und überrascht, «auch zum Mähen und Heuen nicht.»

Er kniff die Augen zusammen und ich konnte sehen, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Es gebe ausser Mähen und Heuen noch anderes, sagte er nach längerer Pause.

«Ausser Heizen auch.»

«Es geht nicht, wenn beide regieren, Mann und Frau.»

«Warum eigentlich regieren? Zusammenspannen, am gleichen Strick ziehen. Das geht.»

«Die Frau gehört ins Haus. Da ist ihr Platz.»

«Man kann die Zeit nicht zurückdrehen, Jakob.»

«Zurückdrehen will ich die Zeit nicht. Ich will sie so lassen, wie sie ist.»


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 513–516.

Erstpublikation: Ingeborg Rotach: Säntis – Zweites Leben. Zollikon-Zürich: Kranich-Verlag, 2009. S. 86–89, 18–19.