Literaturland


Johann Baptist Rusch

Der letzte Reislaufstreit

1935

1734 entbrannte ein Zwist über die Beteiligung von Appenzellern in ausländischen Kriegsdiensten. Der Grosse Rat hatte die Werbung für eine Kompanie in französische Dienste gestattet; dies provozierte Widerstand unter anderem deshalb, weil die Angelegenheit nicht vor die Landsgemeinde gebracht wurde. Die Tumulte spalteten die Bevölkerung; etwa hundert Personen wanderten schliesslich aus und bauten in Südcarolina (USA) eine neue Gemeinde auf. Zwei Passagen aus dem Roman:

Des Wegs daher kommen drei Büblein und flennen. Die Reiter nähern sich den ersten Häusern der Gemeinde Bühler.

«Kinder, was habt ihr?» ruft der Pfarrer vom Ross herab.

«D’Muetter het ös erhaue», klagt der Kleinste; «will mer Soldate gspielt hend», erklärt der Mittlere; «ond het ös die schöne hölzene Säbeli ond Gweir öberm Chneu verbroche ond alles mitenand uf d’Schiter gworfe», beschliesst der dritte.

Und da kam auch schon die Mutter selbst, noch umgekehrt einen zerbrochenen hölzernen Sabel als drohendes Strafinstrument in der Hand. «Chönd jetz no hä ond gönd ohni z’Nacht is Bett, ehr strolegi Sträfi. De ganz Tag strieleder im Gäu umenand, ass mer nüd wäss, wo er sönd, i will eu de Chrieg scho ussetriebe.»

«He, he, Frau, nicht so streng! » ruft ihr der Pfarrer zu. «Es sind Knaben, und in jedem Knaben steckt der Naturtrieb des Soldaten.»

Die Frau wirft den Reitern einen bösen Blick zu. «’s ist nüd gsät, ass d’Natur öberall triebe möss. Wenn natürli de Pfarrer ’s ganz Johr vom Chrieg prediget, fangid zletscht no Sügelsuger mitenand Chrieg a.»

«Au!» – «Marsch, he jetz!» Sie hatte mit dem hölzernen Schwert dem Grössten ihrer drei Buben eben eines versetzt.

«Was zerbrechet Ihr den Knaben ihre Waffen?» tadelt der Pfarrer, «die Waffe ist ebenso des Knaben natürliches Spielzeug, wie dem Mädchen es die Puppe ist.»

«Das ist nüd wohr, Herr Pfarrer», erklärt die Frau resolut und steht mit dem zerbrochenen Waffenspielzeug ihrer Buben vor dem Pferd des Pfarrers, «’s Bäbele vo de Mädle dient em Lebe, ’s Chriegele vo de Buebe füert zum Tod. Wenn die chlinne Mädli mit de Puppe bälid (1), goht wie e Blüemli, chli ond fi, d’Muetter uf i ehrne Seel. Buebe aber, wenn’s chriegelid mitenand, weckid Gfühl, wo spöter im grosse d’Müetter zo Witwe ond ehrni hilflose Gofe zo Waise machid. Solang im Chrieg jede Schotz Polver dehem e Fraueglück verschüsst und jede Tropfe Bluet im Feld dehem im Huus viel tuusig Träne chostet, verbüti i de Buebe die Tüfelei, ond i fönde, wenn Ehr’s gad wesse wend, en Pfarrer, wo derigs Züg uf de Chanzle lobt und rüemt, sei sölber ken Schotz Polver wert.» Nimmt ihre Buben bei den Ohren und Kragen und schlägt die nächste Haustür zu. […]

In Teufen ist lustiges Leben. Auf dem Kirchplatz flattert an hoher Standarte die französische Fahne. Sechs Grenadiere halten davor die Ehrenwach. Aus dem Saal des nahen ‹Adler› hört man Geigen und Hackbrett, und schwingen sich Soldaten und geworbene Burschen mit hergezogenem Weibervolke im Tanz. Eine hohe Tribüne steht auf dem Kirchplatz draussen, auf die alle halb Stund die Musik steigt, um ein Stück zu spielen, und wenn dann junge Leute sich sammeln, hält der Leutnant Ulrich Zürcher eine Werberede. Schon seit einer Woche hat er jeden Tag zwanzigmal das gleiche gesagt:

«Junge Appenzeller, geborenes Soldatenvolk, würdige Enkel der Väter von Vögelinsegg! Ihr geltet bis nach Paris als die besten Soldaten. Tretet ein in unser Regiment, traget den schweizerischen Waffenruhm durch fremde Lande, schmückt mit euren Taten den stolzesten Königsthron. Ein Kreuztaler Handgeld, fünfzig Gulden beim Auszug, nach fünfjährigem Dienst ewige Pension … wer bezahlt euch das in der Heimat? Soldatenleben ist ein lustig Leben. Geht in den ‹Adler› hinüber, trinkt und esst, es soll euch nichts kosten.»

Und immer neue Gruppen zwängen sich die ‹Adlerstiegen› hinauf, drücken sich durch die überfüllte Vorstube in den Saal hinein, und sofort gesellen sich gediente Soldaten französischen Dienstes zu ihnen und erzählen ihnen von der fremden Welt, von ihren Abenteuern, klimpern mit ihren Talern im Sack, bestellen Wein und schenken ein und machen die Burschen gelustig und gefügig, bis einer von diesen Geschichtenerzählen weggeht.

Dann kommt gar bald der Leutnant, klopft dem Burschen auf die Schulter, lacht: «Herrgott, get das en Soldat. Gad nüd zviel gsät, de Strammst vo de Kompagnie. Und wenn er denn est no öseri schö Uniform hät, gad e Prachtsluege. Ond söttig Lüt söllid dehäme im Stall inne blibe ond a dene gäche Hämetli obe mit Boggle ond Schinde verchromme? Wär Sönd ond Schad.»

Und natürlich unterschreibt, halb im Dusel, unter fühlbar fremdem Zwang, der junge Bursch den Verpflichtungsschein und nimmt den Handtaler, einer wie der andere.

(1) bälid zum Verb ‹bäle› für spielen, vgl. Bälizüüg für Spielsachen. (Red.)


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 78–79.

Erstpublikation: Johann Baptist Rusch: Der letzte Reislaufstreit. Eine Episode aus der Appenzellergeschichte. Basel: Friedrich Reinhardt, 1935 (Stab-Bücher). S. 47–49, 63–64.