Literaturland


Verena Schoch

Laubbläser erobern die Heuwiesen

2013

Alle Vögel sind schon da … Sie künden zwitschernd den nahen Sommer an. Die Bauern sind kribbelig, weil das Heuen bald wieder ihren Alltag bestimmt und die Alpfahrten bevorstehen. […] Vier Schnitte pro Sommer sind auch im Appenzellerland zur Norm geworden. Traktoren, Weidemäher, Heuzettler, Ladewagen, Rundballenpressen, aber immer weniger Bauern kümmern sich ums Futter für das liebe Vieh. So kann es passieren, dass bei einer Frühlingswanderung im grünen Hügelgebiet plötzlich artfremde und ortsuntypische Wesen auftauchen. An steilen Abhängen bewegen sich saurierähnliche Gestalten mit überlangen Rüsseln. Mit Benzinmotoren wie Rucksäcke getragen, Pamir-Gehörschützern und langen Blasrohren befördern sie die Heumaden talwärts.

Ich traute meinen Augen und Ohren nicht, als ich vor kurzem in eine solche Szenerie geriet. Kein Roboter aus einem Science-Fiction-Film der siebziger Jahre – nein – eine Appenzellerbäuerin, mit einem Laubbläser bestückt. Sie arbeitete im steilen Hang ihres Heimetlis und erledigte allein und in Sturmes-eile (Laubbläser blasen mit bis zu 300 Stundenkilometern) das Bergheuen. Mein Gruss ging im Lärm des Benzinmotors unter und blieb verständlicherweise unerwidert. Ohne Laubbläser hätte das Heuen an diesem Hang viermal länger gedauert. Und die Geräusche der Rechen im dürren Heu, der leise Wind und die Stimmen der arbeitenden Menschen hätten einen Wohlklang ergeben … So träumte ich auf dieser Wegstrecke vor mich hin. Weit und breit war keine Gewitterwolke in Sicht, die Kühe weideten friedlich, und der Säntis strahlte in der Sonne. An seiner Nordwand prallte der Lärm des Laubbläsers ab und kam als ohrenbetäubendes Echo wieder zurück zum Heublätz. Eine ganz neue Art von Idylle!

Wieder zu Hause schaute ich mir die Homepage von Appenzellerland Tourismus an. Dort lässt man mich die echten Klänge Ausserrhodens hören. Vögel zwitschern, Schmetterlinge flattern animiert. Donner grollt und Regen prasselt, der Bläss bellt, Bienen summen laut, der Güggel kräht und im Bild öffnen und schliessen sich Blumen still und zeitgerafft. Dies alles umrahmt von einem «Cherli» lüpfiger Appenzellermusik. Bilder von Sennen, Schellen, glücklichen Tieren und einer intakten Natur. Das Appenzellerland als ideale Destination für Gäste aus aller Welt.

Ob Vögel, Schmetterlinge und Bienen bei solcher Hektik und solchem Lärm in der Landwirtschaft wohl in ein paar Jahren nur noch auf Homepages erscheinen? Ob die Touristen in den appenzellischen Hügeln dann vielleicht Chüelis und Heuerlis spielen können mit bunten Kühen aus Plastik und hölzernen, alten Heurechen und -gabeln, weil es dann keine Bauern mehr gibt, nur noch Landwirtschaft?

Vielleicht sollte ich mir einen Laubbläser kaufen und einfach alles, was mir nicht gefällt, mit 300 Stundenkilometern fortblasen …


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 341–342.

Erstpublikation: Verena Schoch: Laubbläser erobern die Heuwiesen. In: Saiten 213, 19 (2012), 6 (Juni). S. 30.