Literaturland


Ruth Schweikert

Schaukeln

2008

Dass das Appenzellerland wahre Wunder wirkt, wusste ich schon als Kind, wenn die Mutter jeweils um fünfkommanullsechs Kilo leichter, beschwingt und verjüngt von ihrer dreiwöchigen Fastenkur nach Hause kam. Sie strahlte, lachte und herzte uns, als hätte sie schon in den Siebzigerjahren weise vorausschauend all das getan, was 2008 unter www.appenzell.ch den potentiellen TouristInnen nahe gelegt wird: «Beim Schneeschuhlaufen die unberührte Stille eingeatmet, in der reinen Luft, an tosenden Wasserfällen, in den bekannten Moorbädern oder den modernen Erholungslandschaften Gesundheit und Wohlbefinden gepflegt».

Dazu passt meine eigene Erinnerung an frühe Sommerferien in Heiden, die ich auf einer Schaukel verbrachte, immerzu von neuem in die Landschaft hinein fliegend; weder Süssigkeiten noch das Versprechen auf andere Vergnügungen vermochten mich davon abzubringen. Ich muss meine Mutter und meine beiden kleinen Brüder zur Verzweiflung getrieben haben. Erst als wir alle erwachsen und von zu Hause ausgeflogen waren, verstand ich, dass die Mutter nicht ins Appenzell fuhr, um schlanker und jünger zu werden, sondern dass sie sich im Gegenteil systematisch Kummerspeck auf die Hüfte lud, damit sie wenigstens einmal im Jahr für drei Wochen weg durfte. Womöglich hätte sie Paris oder Ibiza vorgezogen, aber wie hätte sie eine solche Destination vor uns rechtfertigen sollen, die weder damals noch heute als gesundheitsfördernd galt und gilt, sondern eher als Synonym gebraucht wird für Liebesabenteuer und durchtanzte Nächte? So gesehen tut es diesem Text kaum Abbruch, wenn ich jetzt gestehe, dass sich der Kummerspeck meiner Mutter nicht in der reinen Appenzeller, sondern in gewöhnlicher Thurgauer Luft auflöste, die das sagenhafte Schloss Steinegg umwehte, das ich mir, wie gesagt, nur im Appenzellerland denken konnte.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 376.

Erstpublikation: Ruth Schweikert: Schaukeln. In: Obacht Kultur 1 (2008/1). S. 12.