Literaturland


Carl Seelig

Wanderungen mit Robert Walser

1957

Carl Seelig war der Herausgeber, Vormund und Nachlassverwalter Robert Walsers. Wenn er ihn in der Psychiatrischen Klinik in Herisau besuchte, unternahmen sie zusammen lange Fussmärsche. Seelig hat Aufzeichnungen dieser Wanderungen für sich festgehalten und sie später veröffentlicht.

10. September 1940

Robert wird immer weisshaariger; am Nacken wachsen ihm schon ganze Büschelchen schneeweisser Haare. Wir stärken uns zunächst mit Bier und zwei Stück Käswähen. Ich schlage ihm vor, nach Teufen – der Gemeinde, in der er eingebürgert ist – zu marschieren. Er erklärt sich einverstanden und fragt: «Auf der Landstrasse?» – «Ja, dafür haben Sie doch eine Vorliebe? – Aber es regnet in Strömen, Herr Walser!» – «Um so besser! Man kann nicht immer im Licht gehen.»

Wir ziehen los über Hundwil und Stein. Es schüttet nun wie aus Giesskannen. Einmal stehen wir bei einer Autobusstelle unter, wo auf einer Bank eine alte Frau sitzt, die noch nie Auto und Eisenbahn gefahren ist. Ich unterhalte mich mit ihr. Robert steht stumm daneben und raucht die ‹Parisiennes›, die ich ihm mitgebracht habe.

Unterwegs sprechen wir über die Mäzenatenfamilie Reinhart in Winterthur. Darauf anspielend, bemerkt Robert später: «Sie sehen heute so reinhartelig aus!» – Ich: «Wieso?» – Robert: «So herrschäftelig, voll Vornehmheitsallüren. Ein bisschen unheimlich!» – «Ich gehe doch am Nachmittag in St. Gallen zur Beerdigung einer Verwandten.» – Robert, trocken: «Eben.»

Sein Gedächtnis für weit zurückliegende Vorkommnisse ist frappant. Er erinnert sich an Dutzende von Namen und Einzelheiten aus dem Leben von Friedrich dem Grossen, Napoleon, Goethe, Gottfried Keller und anderen. Dass Keller an seinem 70. Geburtstag die Urschweiz als Aufenthalt wählte, hält er für keinen Zufall. Instinktiv wollte er an diesem Tag dem Herzen seiner Nation nahe sein. – Für Versuche, in der Mundart zu schreiben, habe er, Robert Walser, wenig übrig: «Ich habe absichtlich nie im Dialekt geschrieben. Ich fand das immer eine unziemliche Anbiederung an die Masse. Der Künstler muss zu ihr Distanz halten. Sie muss vor ihm Respekt empfinden. Es muss einer schon ein rechter Tschalpi sein, wenn er sein Talent darauf aufbaut, volksnaher schreiben zu wollen als die andern. – Die Dichter sollten sich grundsätzlich verpflichtet fühlen, edelmännisch zu denken und zu handeln und nach dem Hohen zu streben.» Als unser Gespräch auf Walter Hasenclever übergeht, der in Frankreich Selbstmord begangen hat, bemerkt Robert: «Man hetzt nicht ungestraft gegen die Macht der Väter. Hasenclevers Drama Der Sohn habe ich schon in Berlin als eine Beleidigung für alle Väter empfunden. Ewige Gesetze bekämpfen zu wollen, ist ein Zeichen geistiger Unreife. Man riskiert dabei, dass sie sich an einem rächen.»

Robert bewundert an den Diktatoren den sicheren Instinkt für die Staatsraison. Ihre Rücksichtslosigkeit sei ein Naturgesetz, das ihnen erst ermögliche, zu bestehen: «Da die Diktatoren fast immer aus den unteren Volksschichten aufsteigen, wissen sie genau, was das Volk ersehnt. Indem sie ihre eigenen Wünsche erfüllen, erfüllen sie auch die seinigen. – Das Volk liebt es, dass man ihm etwas zuliebe tut, dass man bald väterlich-lieb und bald streng mit ihm ist. So kann man es sogar für Kriege gewinnen.»

«Haben Sie schon bemerkt, wie jeder Verleger nur in einer bestimmten Epoche gedeiht? Die Offizinen Frobenius und Froschauer im Mittelalter; Cotta im aufkommenden Bürgertum, die Herren Cassirer im dulci iubilo der Vorkriegszeit, Sami Fischer im jungen, vom Kaisertum sich losgürtenden Deutschland, der abenteuerliche Ernst Rowohlt in der Vabanque-Nachkriegszeit. Jeder hat die Atmosphäre, die er für sein Unternehmen braucht und in der er saftig verdient.»

In der Anstalt habe man ihm den Antrag gestellt, zum siebzigsten Geburtstag des Chefarztes Dr. Otto Hinrichsen ein Gedicht zu schreiben. «Aber wie käme ich dazu? Solches Zeug verfertigt man wie J. V. Widmann am besten selbst, und zwar scherzhaft-ironisch. Lesen Sie einmal bei Goethe und Mörike nach! Da kann man lernen, sich selbst mokant zu belächeln.»

Nach drei Stunden erreichen wir Teufen und lassen uns in einer Metzgerei-Wirtschaft bei Geschnetzeltem, Bohnen und Rösti gemütlich nieder. Den ostschweizerischen Weinen zieht Robert einen Fendant vor. Beim schwarzen Kaffee sprechen wir von der Anstalt. Ich: «Ist es Ihnen noch nie aufgefallen, dass es vor allem unverheiratete Männer und Frauen sind, die einen geistigen Knacks haben? Vielleicht wirkt die verdrängte Sinnlichkeit ungünstig auf das Gehirn? Denken Sie an Hölderlin, Nietzsche oder Heinrich Leuthold!» – Robert, zögernd: «Daran habe ich nie gedacht. Vielleicht haben Sie aber recht! – Ohne Liebe ist der Mensch verloren.»


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 19–20.

Erstpublikation: Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser. Neu hrsg. im Auftrag der Carl Seelig-Stiftung und mit einem Nachwort versehen von Elio Fröhlich. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1977. S. 25–28. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.