Literaturland


Julia Sutter

Kool ganz nah

2014

Der Text erschien im Themenheft Agglo der Literaturzeitschrift entwürfe. Protagonist ist Strassenbahningenieur Kool.

Als Kind hatte er Baggerführer werden wollen, jetzt beklagten sich seine Kunden über Baustellensignalisierungen, wo offensichtlich nicht gearbeitet werde. Wie lange das Amt vorhabe, an der A1 herumzudoktern, warum man nicht endlich den Pannenstreifen freigebe. Zu Beginn hatte Kool besänftigt und erklärt, solange ein frischer Belag auskühle, könne man nicht weiterbaggern, der Pannenstreifen eigne sich nicht für die Belastung von 40-Tönnern, es werde hinter den Sichtschutzwänden sehr wohl gearbeitet, nicht alles laufe zwingend mit Getöse ab. Inzwischen war er schlauer. Gab seinen eigenen Leuten die Anweisung, das Materialdepot oder alte Belagsreste zu Bergen aufzutürmen, Abfall gut sichtbar auf dem Pannenstreifen zu platzieren, damit die Autofahrer kapierten, dass hier gekrampft wurde und keine Minute vertrödelt. Verkäufer Kool sass in seinem geräumigen Büro und verwendete den Grossteil seiner Zeit darauf, die Baustelle für alle zum unvergesslichen Erlebnis zu machen – der Einzige, der sie nicht erlebte, war Kool selber. Und Villmar, aber der vermisste den Dieselgeruch ganz sicher nicht. Wenn Villmar aufgefordert wurde, etwas zu erklären, stierte er auf seine Pläne und machte unverständliche Halbsätze, von wegen das hier sei obsolet und jenes dort werde nächstens volatil. Dem ging es nicht um die Brücke, sondern um seine sauberen Pläne. In seinem Büro brannte noch Licht. Die Pläne hingen an der Wand, Tabellen mit Spalten für Termine und mit solchen für Gelder. Villmar hatte als Bub Bürolist werden wollen. Kool sprach durch den offenen Türspalt zum Rollkragenrücken: «Bis morgen», und ging, ohne eine Antwort abzuwarten.

Drei, vier Mal im Jahr schaffte es Kool auf die Baustelle, fünf Mal, wenn es hochkam. Warnjacke und Helm lagen auf dem Beifahrersitz. Kool fuhr auf der bereits sanierten Spur Richtung Zürich. Der neue, dunkle Flüsterbelag war der reinste Genuss. Auch Luise hörte mittlerweile den Unterschied. Alles eine Frage der Übung. Kool umschloss mit einer Hand seinen goldenen Anhänger, sagte leise vor sich hin: «Keiner da, niemand verspätet, die Baracken verschlossen, heilige Barbara, Helferin in der Not, keiner ist da.» […]

Kool setzte den Blinker, bog ein zum Rastplatz Oberengstringen. Die grünen Baubaracken lagen im Dunkeln. Keiner da. Er stellte den Motor ab, blieb einen Moment sitzen. Wie erleichtert man in der Gemeinde war, dass der Schwulentreff hatte verreisen müssen, als der Rastplatz geschlossen und von den Baracken in Beschlag genommen wurde, hatte niemand offen zugegeben. Aber Kool hatte Telefonate geführt. Ob die Schwulen zurückkommen würden, lasse sich von seiner Seite her unmöglich voraussagen. Da wage er keine Prognose. Wegen der Gemeinde hätten sie den Rastplatz wohl nach Ende der Bauarbeiten nicht mehr zu öffnen brauchen. Aber Kool hatte an seine eigenen Kunden zu denken, er hatte Broschüren drucken lassen: Wir können die Fertigstellung selber kaum erwarten, wir bitten um Verständnis. Er zog die Warnjacke über, ertastete in der rechten Brusttasche einen vergessenen Bonbon, steckte ihn in den Mund und nahm die Treppe in Angriff. Oben auf der Passerelle war ein Aufrichtungsbaum ans Geländer gebunden. Villmar hatte im Büro gemeldet, wegen der Tanne mache der provisorische Übergang einen schlampigen Eindruck. Kool beugte sich über das Geländer. Näher zum Material. Die A1 lag zweigeteilt unter ihm. Reflexartig hielt er den Helm fest, als er sich tiefer hinunter neigte, den Autofahrern zu.

Unten im ungenutzten Niemandsland trennten ihn schwere Betonelemente von der Gegenfahrbahn. Von grünen Mittelstreifen war man wieder abgekommen. Mobile Leitplanken machten mehr Sinn. Kool hätte in dieser einen Nacht eine neue Spur verlegen können. Oder mindestens ein, zwei Elemente verschieben. Ihn hätte man zuletzt verdächtigt. Im Büro wusste niemand, dass er seinerzeit den Baggerführer gemacht hatte, bis heute manchmal betroffen aufwachte, weil er eben noch im Schlaf gehebelt hatte, in grosser Höhe umgeschwenkt war. Kool ging mitten auf der breiten, leeren Fahrbahn. […]

Sein Vater, der Ingenieur, hatte ihm den Baggerführer nicht etwa ausgeredet, später allerdings auch nicht den Stolz und die Genugtuung zu verbergen versucht, als Kool den Ingenieur anhängte. Ein Familienvater, der die Wahl hatte, entschied sich nicht dafür, sein Leben mit Baggern zu verbringen, auch nicht unbedingt beim Plänezeichnen.

Kool, du kannst es gut mit den Leuten. Ungewöhnlich gut für einen Ingenieur, hatte man zu ihm gesagt. Er hatte es geglaubt und war erst Bereichs- und dann Filialleiter geworden. Vor vierzig Jahren war die Brücke eröffnet worden; damals war einer der Grösste gewesen, wenn er im Brückenbau tätig war. Heute streckte Villmar die Brust raus, wenn ihm ein neues 500-Millionen-Projekt zugesprochen worden war, und der verstimmte Kollege, der nur 80 Millionen verbauen durfte, liess sich in der Mensa eine Extrakelle Sauce schöpfen.

Kool ging mit zögernden Schritten. Gemäss Vorschrift wurden zwar bei Betriebsschluss alle Baugruben abgesperrt, mit Baggern verbarrikadiert, damit kein verirrter Autofahrer aus Versehen in eine Grube raste und sich das Genick brach. Den Fuss konnte man sich auch an einer simplen Unebenheit verstauchen. Von der Gegenfahrbahn drang das Verkehrsrauschen herüber, spärlich auch das indirekte Licht der Scheinwerfer. So, wie heutzutage auf den Baustellen gestohlen wurde, nicht nur Maschinen, sondern auch Baumaterial, ja Schutt sogar, hätte man eigentlich alles anketten müssen. Kool hob ein Belagsbruchstück vom Boden, wog es in der Hand, warf es zurück auf den Haufen. Dann stiess er auf einen Stapel Wärmeteppiche, aufgeschichtet wie Brennholz. Er setzte sich auf die zusammengerollten Gummimatten, die unter seinem Gewicht leicht nachgaben, und schaltete das Telefon aus. Vielleicht konnten sie doch nach Frankreich auswandern, in den Süden. Dort wurde es auch im Winter nicht so kalt, dass man den Belag, der doch auskühlen sollte, mit einem Teppich zudecken musste. In Frankreich war es mit dem Strassenbau überhaupt eine ganz andere Sache. Da hätte man die alte Strasse alt sein lassen, ihr die Ehre nicht genommen, ihre Risse nicht ausgebessert. Man hätte neben die alte einfach eine neue Autobahn gebaut, ohne jahrelanges Bittibätti, ohne jahrelange Planerei. Villmar sagte gern: Wenn sie zu bauen beginnen, ist die Arbeit beendet. Dass er irgendwie sogar Recht hatte, ärgerte Kool am meisten. Hier gaben die Bauern keinen Quadratzentimeter freiwillig her, die wehrten sich bis aufs Blut. In Frankreich auch, aber dort konnten sie nichts ausrichten. Barbara hatte sich ebenfalls nicht zur Wehr setzen können, war aber auf der Flucht vor ihrem grausamen Vater, als die Not am grössten war, von einem Felsen verschluckt worden, war ihm wenigstens einmal entkommen, wenigstens vorläufig. Im Tunnel brachte einen der Rauch um, nicht das Feuer. Kool fingerte seine goldene Barbara unter dem Hemd hervor. Ihm war kalt. In grösster Not vom Fels verschluckt. Er nahm einen Teppich vom Stapel, rollte ihn auf, richtete ihn gerade aus. Den zweiten legte er daneben. Als dreiundfünfzig Teppiche beieinanderlagen, prüfte Kool die Unterlage, fand die Schicht zu dünn, ordnete die Teppiche neu an, nun immer zwei aufeinander, und mit dem letzten, der übrig blieb, deckte er sich selber zu.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 286–288.

Erstpublikation: Julia Sutter: Kool ganz nah. In: entwürfe. Zeitschrift für Literatur 77 (2014). S. 47–52.