Literaturland


Georg Thürer

Die Rosenkanzel

1951

Aus einer Kalendergeschichte über einen prächtigen Rosenbusch auf einem Höhenzug zwischen der Stadt St. Gallen und Teufen.

Es war in der alten Zeit, die man gerne die gute nennt, als die Höfe auf den erwähnten Anhöhen zwei sehr ungleich gearteten Bauern gehörten. Auf der Lindenegg, welche die Milch in die nahe Stadt lieferte, lebte ein fünfundzwanzigjähriger Bursche, der drei Kühlein und zwei Geissen hatte; die Eltern waren gestorben, ehe er zum ersten Male an die Landsgemeinde ging, und die beiden ältern Schwestern hatten bei der Heirat einen Teil der Viehhabe als Aussteuer mitgenommen und dem Bruder gesagt, er möge sich eben umtun, dass seine Braut dereinst auch ein paar Haupt Vieh in die Ehe bringe. Es war nun nicht gerade ein armes Mädchen, dem Johannes Tanner in Liebe nachsann und nach deren Anwesen, dem Sonnensteig, er immer wieder hinüberblickte; aber gerade die Hablichkeit ihres Vaters Bartholomäus Zeller liess Johannes die hübsche Lisette unerreichbar erscheinen. Er hatte sie an einem froh durchsungenen Tage kennen gelernt. Eine Schar junger Leute war zu Pfingsten von einem Ausflug heimgekehrt und dabei in einem Tobel von einem Gewitter überrascht worden. Man suchte unter einer gedeckten Holzbrücke Schutz vor dem Regen und sang dabei Lied um Lied. Da stellte sich heraus, dass die Stimmen von Johannes und Lisette gar gut zusammenpassten, und niemand wunderte sich, dass der gute Jodler das Mädchen auf den Sonnensteig heimbegleitete – das schien jedermann vielmehr der natürliche Ausklang des Tages zu sein, und die beiden hätten ihn recht gern in den Auftakt eines weitern Zusammenstimmens verwandelt. Jedenfalls holte Johannes Lisette am nächsten Jahrmarkt zum Tanze ab. Statt eines guten Vaterwortes rief ihnen aber der alte Bartholomäus nach: «Für einmal mags hingehen. In Zukunft aber holt mir meine Lisette nur einer ab, der so viel Kühe im Stalle besitzt, als die Woche Tage hat.» Da fiel unserm Johannes die Armut zum ersten Male schwer aufs Herz. Auf dem Heimweg aber kam ihm in den Sinn, dass seine Mutter ihm oft gesagt hatte: «Das Beste, was du hast, ist, dass der Baumeister Grubenmann dein Götti ist. Das ist mehr wert als Geld und Gut.» Dieses Wortes eingedenk, schlug er den Weg zu seinem Paten ein. Baumeister Johannes Ulrich Grubenmann bewohnte damals im Dorfe Teufen ein neues Haus, das er sich oberhalb der ebenfalls von ihm erbauten Kirche aufgerichtet hatte. Er stand am Brunnen, der in eine Mauernische eingelassen war, um die er schöne Rosen zog, die er nun liebevoll aufband. Der Spätsommerwind umspielte das dünngewordene Silberhaar, das wie ein Kränzlein das bedeutende Haupt umgab. Als Johannes das Gartentor öffnete, wusch er sich die Hände. «Was gibt’s Neues?» fragte er. – «Nicht eben viel.» – «Hast du Bericht von deinen Schwestern?» – «Ja, beide sind glücklich dran.» – Der Baumeister trocknete die Hände an seiner Gartenschürze. «Und haben deine Schwestern auch guten Bericht von ihrem Bruder?» – «Ich mag mich ihnen nicht anvertrauen.» – «Aha, da denkst du, der Baumeister Grubenmann, der schon so manches Tobel überbrückt hat, könnte auch dir ein Brücklein zum Schatz schlagen. Kommst du deswegen zu deinem Götti?» – Johannes nickte. «Unter einem deiner Firste hat’s begonnen. Im letzten Sommer mussten wir einmal bei einem Ausflug in der Hüslibrugg dort hinten im Tobelgrund unterstehen. Es waren mehr als zwei Dutzend Leute, aber ich sah nur jemand, die Lisette vom Sonnensteig.» – «Oha, die hat einen bärbeissigen Vater! Und seit der Barthli Witwer geworden ist, wird’s noch schlimmer von Jahr zu Jahr.» – «Kennst du ihn seit langem?» – «Wir gingen miteinander in den Unterricht.» – «Wie war er denn in jungen Jahren?» – «Eigentlich nie recht jung. Er gebärdete sich immer wie ein Mann, und sein zweites Wort war denn auch ‹Ein Mann ein Wort!›» – «Das ist geblieben bis auf den heutigen Tag, sagte mir Lisette.» – «Und wenn man ihn herumbringen möchte, so müsste es über dieses Wort geschehen», bemerkte der Baumeister sinnend. Der reife, weise Mann legte dem Jüngling die Hand auf die Schultern: «Die befestigten Stellen sind mitunter die sichersten Zugänge, und die Schwächen eines Menschen sind zumeist dort, wo er seine Stärke wähnt.» – «Das versteh ich nun wiederum nur halb», sagte Johannes, der offenbar im Gefühl hergekommen war, dass seine Liebe seine Stärke sei. Aber der Pate mass ihn mit einem untrüglichen Blick, wie er wohl Baumstämme im Walde vor dem Holzschlag für einen Brückenbau zu prüfen pflegte. «Ein Baumeister, zumal ein Brückenbauer, unternimmt kein Werk, ohne sich vorher von der Tragfähigkeit der Sache überzeugt zu haben. Auch wenn es eine Herzenssache ist. Bist du denn sicher, dass ich dir nun nicht Hand zu einem Werke biete, dessetwegen du mich einmal verfluchst und eine unglückliche Lisette Tanner mit dir?» Johannes sah seinen Paten gross an und wollte etwas erwidern. Aber der Baumeister kam ihm zuvor: «Sag nicht ‹die oder keine!›. Das Leben ist länger als zwei Sonntagabende, und auch im Weiberwald erkennt man die Edelhölzer nicht immer auf den ersten Blick.» – «Und wenn man gar zu lange mustert, dann verpasst man vor lauter Zuwarten die Rechte.» Das hatte der Pate bei seinem letzten Besuche zu Johannes gesagt, und dieser spürte, wie wohl die Erfahrung dahinter steckte, dass der berühmte Mann in seinem bewegten Leben nicht eine ebenbürtige Begleiterin heimgeführt hatte. Der weise Meister nahm es indessen nicht übel, dass sein Patenkind das Wort so deutlich zurückgab, und abgeklärte Güte leuchtete aus seinen kleinen, aber sehr hell gebliebenen Augen, als er sagte: «Was meinen Stand angeht, so erzähl ich dir ein späteres Mal davon, vielleicht wenn ich auf der Lindenegg oben mehr als einen Zuhörer habe. Aber kehren wir zum Jungholz zurück. Ich bin der letzte, welcher dir die Lisette ausreden möchte. Sie ist die bare Mutter in Wuchs und Gang, gleich blond und doch auch dunkeläugig, grad wie sie!» – «Ich könnte für sie durchs Feuer.» – «Das ist Mitte zwanzig leichter als durch den Frost.» – «O Götti, alles tät ich für sie, wenn ich sie nur bekäme.» – «So, alles tätest du? Auch warten?» – «Und wenn ich darüber ergrauen sollte.» – «Das verlangt wiederum niemand auf Erden und wohl auch der Herrgott nicht.» – «Was verlangt man denn?» – «Das müsste man eben den Vater fragen.» – «Der will seine Tochter nicht einem armen Schlucker geben; keinem, der nicht wenigstens seine sieben Kühe hat.» – «Das ist doch schon eine Handhabe. Wie viele Kühe hast du denn? Immer noch drei?» Johannes nickte. «Was verlangt denn der alte Zeller sonst noch von einem Tochtermann?» – «Das mag der Teufel wissen.» – «Nein, wir müssen das wissen. Und wenn wir den Alten zeugenfest auf seinen Leibspruch: ‹Ein Mann ein Wort!› – festnageln können, so mag’s glücken. Jedenfalls lernen wir die Lisette bei dieser Gelegenheit noch ein wenig besser kennen, und darauf kommt ja schliesslich alles an. Man muss an sein Glück glauben und es erringen mit aller Kraft, die uns gegeben ist. Aber überstürzen dürfen wir nichts. Nächsten Monat habe ich an der Schattenhalde, dem Nachbarhofe hinter dem Hügel, zu tun. Da müssen wir Bauholz über den Sonnensteig tragen. Willst du dabei mein Handlanger sein? Der Zahltag gibt etwas an die vierte Kuh.»


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 201–203.

Erstpublikation: Georg Thürer: Die Rosenkanzel. Erzählungen. St. Gallen: Tschudy-Verlag, 1951. S. 10–15.