Literaturland


Lisa Tralci

Das braune Zimmer

1998

Am ersten Tag des neuen Jahres den Götti besuchen. An der Vaterhand durch den dunklen Gang. Durch Schweinestall und Sonntagsbraten in die Stube mit den abgewetzten Polsterstühlen. Beromünster im Ohr. An der Wand Jesus mit offenem Herzen. Bloss nicht auf den Stuhl sitzen, denkt das Kind. Und die Kissen auf dem Polsterstuhl nicht berühren! Es klettert auf die Holzbank vor dem grünen Kachelofen.

Der Götti ist gross. Brillantinehaar klebt am Kopf. Über seinem Bauch spannt die braune Weste. Hosenträger halten die filzbraunen Hosen. Die Haushälterin weissgeschürzt. Haus- und Herhälterin hört das Kind die Eltern manchmal sagen. Ihre Brillengläser sind dick. Gesicht und Hals voller roter Flecken. Ihre Schürze hat gestärkte Volants. Ihr Haar ist strähnig. Grau und dünn. Im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt. Mit braunen Haarnadeln. Über dem Knoten ein Netz.

Auf der breitbeinigen Kommode liegt das Geschenk. Ein brauner Appenzeller Biber. Und ein Fünfliber. Unter Klebeband auf dem Bär.

– Iss, Kind! Auf einem Teller liegen Biskuits. Mürbe Häufchen. Ranzig. Das Kind schiebt die Masse im Mund von rechts nach links. Von links nach vorn. Die Männer reden. Von Milchleistung und Schwingfesten. Von den Gemeinderatswahlen.

– Nimm, Kind! Brei im Mund. Schlucken. Nicht atmen! Noch einmal schlucken. Im Mund bleiben Krümel.

– So nimm doch! Kinder mögen Süsses! Nein, danke. Und das Zeugnis? Das Kind zuckt zusammen. Der Götti will keine Antwort. Hauptsache, du hilfst schön! Das Kind verzieht den Mund.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 157.

Erstpublikation: Lisa Tralci: Gegenrede. Lyrik, Kurzprosa. Herisau: Appenzeller Verlag, 1998. S. 43–44.