Literaturland


Lisa Tralci

Silvesterchlausen

1999

«Ob wir an böse Geister glauben?», Berta Fässler holt tief Luft. «Früher gab es ganz sicher Leute, die mehr konnten als andere. Im guten wie im bösen Sinne. Sie plagten Mensch und Tier. Darum war es gut, wenn die Chläuse recht schellten und rollten, und ab und zu sagte ein Bauer, sie sollten noch etwas um den Stall herum chlausen. Ich erinnere mich, dass unser Jagdhund eines Tages die Wände hinaufsprang. Unglaublich, bis an die Decke. Und dann blieb er bocksteif stehen und stierte uns an. Oder man störte unseren Schlaf. Eine, die Gutes tat, konnte dem abhelfen. Die andere schrie im Todeskampf entsetzlich. Das war, weil sie ihre bösen Kräfte niemandem mehr weitergeben konnte. Deshalb war es schon gut, dass die wüsten Chläuse ins Haus kamen. Es muss etwas dran sein mit dieser Geistervertreibung. Die Chläuse haben die Häuser gereinigt. Darum hatte man sie gern. Ausser die mit dem Stecken, die die Leute nur plagten.» […]

Ein bellender Bläss begrüsst den Vorrolli auf dem Bauernhof, ein Läufterli öffnet sich, im Rahmen ein bärtiges Gesicht. Am Kronberghimmel ein paar Fetzen Morgenrot, die Sonne kitzelt den Hohen Kasten und den Säntis im Nacken. Schellend und rollend stellen sich die schön-wüsten Chläuse in einen Kreis, werden langsam ruhiger, lassen Klöppel und Steine verstummen. Drei Zäuerli zum neuen Jahr, hinaus in die klare Morgenluft und hin zu den Bauersleuten, die unter dem Türrahmen lauschen. Dazwischen bietet die Bäuerin Weisswein an, mit einem Schläuchlein unter die Larven und die durstigen Kehlen hinab. Ein kräftiger Händedruck, gute Wünsche für das neue Jahr und ein letztes Chlausengebaren. Im Blickfeld das Tal, die Hochalp, sanfte Hügelrücken, Häge und Hecken. Ein roter Jeep mit zwei Tansen vor dem nächsten Haus, Bauer und Bäuerin betrachten staunend die verschiedenen Szenen in den Nischen der Gröscht des Bindlischuppels. Beim zweiten Zäuerli tritt der Bauer in den Kreis, bewegt lauscht er den Tönen, lässt sich von ihnen umfangen, seine blauen Augen staunend auf den Maskengesichtern rundherum. Auf der schwarzen Erde im Blumentrog leere Weinflaschen, der Nachrolli verabschiedet sich als Letzter, leichtfüssig und tänzelnd.

Im hellen Vormittagslicht die Ahnung von Frühling und Weidenkätzchen; Rinder tollen ungestüm durch die Schneereste zwischen Brunnentrog und Tennstor. Auf der Bank vor einem Haus ein Kassettengerät, der Bauer mit der Zipfelmütze wird die Zäuerli im neuen Jahr hören, wieder und wieder. Und jetzt musst auch noch eines nehmen! Für kurze Zeit ist auch er wieder dabei, zauret eins vom Vater. Zwerggeissen grasen vor dem Bauernhaus. Eben habe eine Kuh gekalbt, erzählt der Bauer im Stallgewand, die Kinder scharen sich um die Mutter. Der Grossvater hält seine linke Hand hinters linke Ohr, auch der Bläss verstummt und für eine weitere Viertelstunde steht die Zeit still, hier, am Hang über Urnäsch.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 422–423.

Erstpublikation: Silvesterchlausen. Wo das Jahr zweimal beginnt. Hrsg. von Marcel Grubenmann / Lisa Tralci.
Herisau: Appenzeller Verlag, 1999. S. 50, 158.